Die Traenen des Mangrovenbaums
erzählen, die sie überzeugen, dass du sehr jung und stark bist – trotz deines Hinkebeins.«
Er lachte geschmeichelt.
Als sie in ihrer Mietkutsche das Villenviertel erreichten, waren die engen Straßen dort bereits verstopft von Kutschen, die alle zum Landsitz des Herrn Verriker unterwegs waren. Sie mussten sich in eine lange Schlange von Wagen einreihen und die Pferde im Schritt gehen lassen, bis sie endlich das zierlich geschmiedete Tor des Anwesens erreichten und im roten Licht des Sonnenuntergangs aufatmend in die Kühle des Parks tauchten. Der Park war mit chinesischen Lampions illuminiert. Anna Lisa erinnerte sich, dass Mijnheer Verriker genau die weiße Villa mit der bronzenen Kanone auf dem Rasen bewohnte, die sie bei ihrer Rundfahrt am Vortag bewundert hatte.
Im Park war unter mehreren weit gespannten Zeltdächern das Essen angerichtet, das auf offenen steinernen Herden zubereitet wurde. Auf einem Podium hatte ein kleines Orchester Platz genommen und spielte muntere Stücke aus verschiedenen Operetten. Anna Lisa hörte einen der Gäste sagen: »Was für eine Wohltat, dass wir uns nicht die einheimische Musik anhören müssen; ich verstehe nicht, dass den Javanern ihr Höllenkrach nicht in den Ohren wehtut – aber es gefällt ihnen noch!«
Serviert wurde eine Rijstafel, jenes beliebte holländische Gericht, das aus einer gewaltigen Portion Reis und zahlreichen handtellergroßen Schüsseln mit Zuspeisen besteht, sodass jeder sich nach Geschmack bedienen konnte. Kellner in weißen Jacken liefen mit Tabletts herum und versorgten die Gäste so reichlich mit Palmwein, Likör und Schnaps, dass bald die Ersten beschwipst waren. Anna Lisa entdeckte in der gesamten vornehmen Gesellschaft kein einziges Gesicht, das nicht weiß gewesen wäre; farbig waren nur die Bediensteten. Das wunderte sie; schließlich hatte Pfarrer Semmelbrod ihr erzählt, dass es viele reiche Javaner gab, die auch hohe Ämter innehatten. Warum wurden diese Leute nicht eingeladen? Aber ihr Gefühl sagte ihr, dass es ungehörig gewesen wäre, danach zu fragen, also schwieg sie und konzentrierte sich ganz darauf, sich um ihren Gatten zu kümmern.
Nach dem Essen begab man sich ins Innere des Hauses, und Anna Lisa staunte über den Ballsaal mit der reich verzierten Decke, den gläsernen Lüstern, den mit rotem Samt gepolsterten Récamièren, die in den Fensternischen zur Erholung bereitstanden, den Wänden voller Spiegel. In der Mitte des Ballsaals sprudelte aus einem Brunnen mit Eau de Cologne parfümiertes Wasser. Dieses Parfüm mischte sich mit den Düften der versammelten Menschen, dem Zigarrenrauch und dem kräftigen Aroma der Gewürze der Rijstafel zu einer atemberaubenden Symphonie.
Da sie ohnehin nicht vorhatten, zu tanzen, nahmen sie an einem der kleinen Tische Platz, die an den Wänden entlang aufgereiht standen. Hier saßen die älteren Leute, denen es genügte, den Jungen beim Tanz zuzusehen.
Simeon, der immer noch ein schlechtes Gewissen hatte, schlug vor: »Nur weil ich hier sitzen muss, musst du nicht dasselbe tun. Meinetwegen kannst du die ganze Nacht tanzen, wenn du Lust dazu hast.«
Sie nippte an ihrem Sektglas. »Ich weiß noch nicht. Wir werden sehen.«
Rasch füllte sich der Ballsaal mit Menschen. Scharen von Damen und Herren drängten sich rund um die Tanzfläche und konnten es kaum erwarten, dass das jetzt auf der Bühne postierte Orchester den ersten Tanz anstimmte. Die Hitze der tropischen Nacht wurde verdoppelt durch die gleißende Gasbeleuchtung und die vielen Kerzen, die überall in den Wandleuchtern brannten, sodass die Damen des Öfteren mit ihren Zofen hinauseilen mussten, um ihre zerrinnende Schminke zu restaurieren.
Im Übrigen brauchte sich der Bürgermeister von Anjer – abseits seines hohen Amtes ein schwerreicher Teehändler – vor seinen europäischen Gästen nicht zu schämen. Einen so prunkvollen Ball hatte Anna Lisa noch nie erlebt. Die Herren waren gleichförmig und nicht sehr aufregend gekleidet. Sie trugen entweder Gala-Uniform oder dunkle Abendkleidung, aber die Frauen glitzerten und schimmerten von mehr oder minder echten Juwelen. Ihre weißen, rosafarbenen, gelben und himmelblauen Ballkleider waren mit Bouquets frischer Blumen geschmückt, die viele auch als Haarschmuck trugen, und ihre farbig bemalten Fächer flatterten wie die Flügel exotischer Schmetterlinge.
Dann erschien der erste Herr, der Anna Lisa um einen Tanz bat, und da Simeon nur lächelte und mit einer Handbewegung
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