Die Traenen des Mangrovenbaums
ein Auge zutun würde, aber der Schock hatte gerade die umgekehrte Wirkung auf sie. Sie schlief wie ein Stein. Hätte Fräulein Bertram sie nicht geweckt, so hätte sie sogar das Treffen mit Mijnheer Zeebrugge verschlafen. In aller Eile wusch sie sich, kleidete sich an und frisierte sich. Fräulein Bertram würde sie begleiten. Die ehemalige Missionshelferin war gut zu Pferde, und es gehörte sich nun einmal nicht, dass eine junge Ehefrau allein mit fremden Männern in die Wildnis ritt.
Sie eilte ins Schlafzimmer, um sich von Simeon zu verabschieden, aber er reagierte kaum auf ihre Worte und ihren Kuss. Die Augen weit offen, den Blick starr an die Decke gerichtet, lag er im Bett und streichelte unablässig mit den Fingern der Linken über den Gips an der rechten Hand, als versuchte er vergeblich zu verstehen, was ihm da widerfahren war. Entweder hatte der rotbärtige Doktor ihm ein mörderisch starkes Schlafmittel verabreicht, oder der plötzliche Zusammenbruch aller Pläne hatte ihn nahezu gelähmt. Wie auch immer, sie musste jetzt los!
Edgar Zeebrugge saß bereits im Frühstückssalon des Hotel des Indes und wartete auf sie. Bei ihrem Eintreten stand er höflich auf und verneigte sich, dann setzte er sich wieder. »Es wird Ihnen jetzt vielleicht nicht nach Frühstück zumute sein«, sagte er, »aber ich rate Ihnen dennoch: essen Sie. Wir haben einen anstrengenden Ritt vor uns, und mit leerem Magen wird Ihnen schwindlig werden.« Die Europäer, sagte er, aßen morgens und abends reichlich und ließen dafür das Mittagessen aus, das einem in der dumpfen Schwüle des Mittags ohnehin nur bleischwer im Magen lag.
Anna Lisa gehorchte bereitwillig. Trotz ihrer Kümmernisse konnte sie sich den Verlockungen nicht entziehen, die sie umgaben. Im Hintergrund, an der geflochtenen Wand des Speisesaals, war das Büfett aufgebaut, und von dort schwebte ein Bouquet der aufregendsten Wohlgerüche herüber. In Bambusschalen und auf Bananenblättern türmten sich die Köstlichkeiten der javanischen Küche: Nudelsuppe, gebratenes Büffelfleisch, Huhn und Fisch, Reis mit Gemüse und Reis mit Rosinen, eingelegter saurer Salat sowie Obst, Kuchen und gebackene Bananen.
Zeebrugge unterstützte sie bei ihrer Auswahl mit Empfehlungen. »Am besten, Sie machen es nach Landessitte und probieren von allem ein wenig. In Java isst man keine kompletten Mahlzeiten, sondern nascht den ganzen Tag. Ein Schälchen Nudelsuppe, ein Schnitz gedünstetes Gemüse, eine gegrillte Garnele, ein paar Löffel Reis, so geht das in einem fort. Deshalb sind die Leute hier auch so schlank und agil; Sie werden kaum einen fetten Javaner sehen.«
Er geleitete sie das Büfett entlang und erklärte ihr die Speisen, die sie nicht kannte. Das meiste war ihr vertraut, Reis, Huhn, Fisch, Gemüse. Aber mitten auf dem Tisch dampfte eine Terrine mit einer seltsam riechenden, pechschwarzen Suppe, von der sie lieber nicht kosten wollte. Zeebrugge hatte ihren Blick bemerkt und lachte. »Lassen Sie sich nicht von der Farbe abschrecken! Das ist Rawon, ein hiesiges Nationalgericht – Fleischsuppe mit einem besonderen Gewürz, Keluak, das man nur hier kennt. Nach einem langen, ermüdenden Ritt gibt es nichts Besseres als Rawon; sofort fühlt man sich wieder frisch und tatkräftig. Übrigens auch nach einer durchzechten Nacht, aber das betrifft eine junge Dame natürlich nicht. Und natürlich müssen Sie Kaffee trinken. Vielleicht auch einen Schluck Genever?«
Sie sah entsetzt auf. »Schnaps zum Frühstück? Mein Herr! Was sollen die Leute von mir denken?«
»Dass Sie eine sehr vernünftige Frau sind. Genever ist eines der vier Dinge, die die Holländer in den Tropen für unverzichtbar halten. Die drei übrigen sind ihre reformierte Bibel, Chinin und Kretek.«
Was Chinin war, wusste die junge Deutsche. Seit die Gräfin von Chinchón, Frau des Vizekönigs der spanischen Kolonien, durch das Rindenpulver des Chinarindenbaumes von der Malaria geheilt worden war, galt das widerlich bitter schmeckende Mehl als Universalheilmittel gegen alles, was einen in den Tropen befallen konnte. Aber Kretek? Davon hatte sie noch nie gehört.
»Das ist eine hierorts sehr beliebte Tabaksorte, der Opium, Cannabis, Bilsenkraut und Schierling beigemischt werden. Man bekommt sie bei Ärzten und Apothekern. Als ›indische Zigarette‹ oder ›Nelkenzigarette‹ wird diese Mischung gegen Lungenleiden und Schlafstörungen, aber auch zur allgemeinen Entspannung verschrieben. Ihrem Mann würden sie gewiss
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