Die Traenen des Mangrovenbaums
sie ängstlich beobachteten, wie ihr Herr mit der unbekannten Gefahr fertigwerden würde.
Raharjo hatte sich rasch wieder gefasst, ärgerte sich jedoch, dass er erschrocken war, und stieß mit bebender Stimme hervor: »Wozu braucht der Mijnheer das schreckliche Tier? Meine Diener werden ihm auch so gehorchen.«
Als er dafür verständnislose Blicke von den Vanderheydens erntete, mischte sich Edgar Zeebrugge ein. Die Pflanzer, erklärte er dem jungen Ehepaar, hielten scharfe Hunde, um ihre Kulis einzuschüchtern und bei Fluchtversuchen zu hetzen, auch in den Sträflingslagern an der Küste bewachten riesige, beißwütige Hunde die Gefangenen, und außerdem konnte Tietjens auch ein shayatin , ein böser Dschinn, sein.
Simeon legte die Hand auf den Schädel der Hündin. »Sie ist kein shayatin , und sie ist die Freundin aller meiner Freunde. Sie wird dem Rosenhaus Glück und Frieden bringen. Außerdem kümmern ich selber und Pahti uns um sie, niemand braucht ihr in die Nähe zu kommen.«
Tietjens tat ihr Bestes, seine Worte zu bestätigen, sie setzte sich auf ihre mächtigen Hinterbacken und schaute so freundlich drein, wie es bei ihrem fleckigen Faltengesicht mit den gelben Augen nur möglich war.
Raharjo atmete immer noch schwer, aber er wollte vor seinen Dienern keine Furcht zeigen, also wandte er sich um und rief den Männern zu: »Dieser Dschinn hat sich Allah unterworfen; er hat nichts Böses an sich. Es wird ihn aber niemand berühren außer dem Mijnheer und seinen eigenen Leuten.«
Ein sichtliches Aufatmen ging durch die versammelte Dienerschaft, als sie so durch allerhöchsten Befehl davon befreit waren, das Untier womöglich füttern und versorgen zu müssen. Sie machten bereitwillig Platz, als Pahti mit seiner hoheitsvollen Begleiterin an ihnen vorbeischritt. Die Vanderheydens nahmen auf dem Tragsessel Platz, dessen Stangen auf den Schultern der Träger ruhten, Fräulein Bertram folgte auf einem Mietpferd, während das Gepäck der jungen Leute auf die Packpferde verteilt wurde. Den Schluss des Zuges machte der verwachsene schwarze Sklave, der auf Anna Lisa genauso erschreckend wirkte wie Tietjens auf Herrn Raharjo. Wenn sie sich je ein Bild von einem gefährlichen Dschinn gemacht hätte, hätte er genauso ausgesehen wie Dongdo.
Raharjo und Edgar Zeebrugge ritten zu beiden Seiten des Tragsessels her, solange die Straße breit und bequem war; als sie jedoch in den Dschungel kamen, ritt der junge Edelmann ein Stück voraus, und Zeebrugge hielt seine feiste alte Stute einmal vor, einmal neben der Sänfte, wie der Weg es gestattete. Die Gegenwart so vieler Menschen und Tiere störte den Dschungel auf. Die Vögel zwitscherten durcheinander; ein Tukan, der bunte, grotesk aussehende Vogel, den die Kolonisten den Pfefferfresser nannten, kreischte die Störenfriede empört an und floh dann ins dampfende Dickicht. Die Affen stießen, während sie hektisch von Wipfel zu Wipfel sprangen, ihre misstönenden Schreie aus. Sie ließen sich manchmal an ihren Greifschwänzen und langen Armen so weit herabhängen, dass Anna Lisa schon fürchtete, sie würden ihr den Hut samt Schleier vom Kopf reißen, aber die Peitschenhiebe, mit denen die Diener sie bedachten, trieben sie rasch wieder auf Distanz.
Simeon hatte bislang nur die stark gezähmte Flora in den beiden Stadtteilen von Batavia gesehen. Er war fassungslos, als der Dschungel sich von allen Seiten immer näher an sie herandrängte, und es war eine Fassungslosigkeit des Entzückens. Immer wieder stieß er heisere Schreie aus, wenn ihm eine der riesigen Orchideenblüten an ihren Luftwurzeln vor der Nase pendelte. »Was für eine Landschaft!«, rief er aus. »Was für ein Paradies!«
Zeebrugge lachte, aber Anna Lisa merkte ihm an, dass ihm die Begeisterung ihres Gatten für sein gewähltes Heimatland gefiel, auch wenn diese Begeisterung erst einmal nur der Botanik galt.
»Beachtlich, nicht wahr? Und was Sie hier sehen, Mijnheer Vanderheyden«, sagte er, »ist erst der Anfang – der zivilisierte Stadtrand-Dschungel. Warten Sie, bis wir noch ein Stückchen höher kommen! Dann beginnt die wahre Wildnis!«
Und wirklich: Noch zwei, drei Kehren des steil ansteigenden Weges, und Simeon kam aus dem Staunen nicht heraus. Er befand sich in einer Welt, die ihm nicht nur vollkommen fremd, sondern bislang unvorstellbar gewesen war. In Europa musste man die Blumen suchen und sammeln, hier sprangen sie einen an wie Tiere, verfolgten einen geradezu. Eine chaotische Masse von
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