Die Traenen des Mangrovenbaums
Natürlich konnte er das Kompliment nicht erwidern, wie es sich gehört hätte, denn Simeon als einen Kämpfer zu bezeichnen, hätte nur als nackter Hohn aufgefasst werden können. Aber höflich wollte er sein, also sagte er: »Das Schicksal verteilt seine Gaben verschieden. Im Glodok sagt man, Sie seien ein gelehrter Mann, was die Pflanzenkunde betrifft.«
»Das ehrt mich, obwohl ich mich in keiner Weise mit einem Mann wie Herrn Liao messen kann. Gewiss, ich besitze auch die eine oder andere unbedeutende Rarität …« Er sah nicht auf dabei, als er das sagte, sondern beschäftigte sich mit dem Essen. Aber Sammler verstanden einander; er musste gespürt haben, wie Raharjos Augen aufblitzten.
Dennoch klang die Stimme des Edelmannes fast gleichgültig, als er sagte: »Jede noch so bescheidene Sammlung enthält ein paar Glanzlichter. Was sind denn die Lieblingsstücke des Mijnheer?«
»Oh, nichts Besonderes. Ein paar Dinge aus alter Zeit. Darunter ein paar Seiten aus einem Zauberbuch, das dem Kaiser Rudolf II. gehörte – aber der Name wird Ihnen nicht viel sagen.« Er fügte eine kurze Beschreibung des Habsburgers an, um Raharjo dessen Bedeutung klarzumachen, dann fuhr er fort: »Er besaß ein Buch, das in einer Schrift geschrieben ist, die noch nie jemand zu lesen vermochte, und sehr schöne Zeichnungen enthält, die Pflanzen darstellen, aber Pflanzen, die man auf dieser Welt nicht kennt. 3 Man sagt, sie wachsen in einer anderen Welt, vielleicht im Himmel. Viele weise Männer haben versucht, das Buch zu lesen und zu verstehen, aber keinem ist es gelungen.«
»Und Sie besitzen es?«
»Eine heimlich angefertigte Kopie und zwei originale Seiten davon, die von einem Diener des Kaisers gestohlen und heimlich zum Kauf angeboten wurden. Eigentlich dürfte ich sie gar nicht besitzen. Aber Sie wissen, wie das ist …« Damit ließ er das Thema fallen. Er konnte es jetzt Herrn Raharjo überlassen, sich auf eigene Faust kundig zu machen, was es mit dem Zauberbuch des Kaisers auf sich hatte. Er war sicher, dass der Jüngling nichts Eiligeres zu tun haben würde.
Anna Lisa spürte, dass ihr Gatte in der Achtung des Javaners beträchtlich gestiegen war. Nicht nur, dass er von sich behaupten konnte, Kostbarkeiten aus der Schatzkammer eines Kaisers zu besitzen, es handelte sich auch noch um ein Zauberbuch! Das verdoppelte den Wert natürlich.
Herr Zeebrugge lenkte das Gespräch zu den Vorzügen des Rosenhauses zurück, und Raharjo drängte in aller Höflichkeit darauf, dass die beiden jungen Leute umgehend dort einzogen. Es sei alles vorbereitet, sie brauchten nur ihre Koffer zu packen. Ein Zögern, deutete er an, könnte den Eindruck erwecken, dass sie an dem Geschenk etwas zu bemängeln hatten. Da er nur noch kurze Zeit in der Gegend sein würde, könnte er selbst den Mijnheer und seine Gattin am nächsten Tag zum Rosenhaus geleiten, das Gepäck konnte die Dienerschaft nachbringen.
Nachdem alles abgemacht war, hatte er es plötzlich sehr eilig, sich zu verabschieden.
Edgar Zeebrugge blieb zurück. Jetzt, wo es keine kulturellen Klippen mehr zu umschiffen gab, entspannte sich die Atmosphäre, und Anna Lisa fühlte, wie die Beklemmung von ihr wich. Während der letzten halben Stunde hatte sie darüber nachdenken müssen, wie die alte Elsa sie noch als Kind gewarnt hatte: Mädchen müssten sich vor schönen Männern mit feurigen Augen hüten, bei deren Anblick ihnen das Herz im Halse klopfte, denn der Teufel nehme gerne die Gestalt solcher Männer an und verstehe es, auch die klügsten Mädchen so zu betören, dass sie seinen Pferdefuß nicht sähen.
»Nun«, bemerkte Zeebrugge, während er seine Pfeife von Neuem stopfte, »jetzt kann Ihnen ein Stein vom Herzen fallen, nicht wahr? Sie brauchen nicht zu fürchten, dass der Typhus in Ihren Mauern nistet, und Geschenkkörbe von unbekannten Freunden werden Sie dort auch keine bekommen. Raharjos Diener sind sehr wachsam, schon weil er selbst genug Feinde hat, und er wird sie zweifellos instruieren, sorgfältig auf die Sicherheit seiner Gäste zu achten.«
»Das ist sehr liebenswürdig von ihm«, sagte Simeon. »Aber … aber ich dachte, es herrscht beinahe Krieg zwischen den Einheimischen und den Kolonialherren; wie kommt es, dass er uns so freundlich zu Hilfe kommt?«
»Die Situation hier in Java ist sehr vielschichtig«, antwortete der Gutsherr. »Den armen Leuten ist es egal, die haben nichts zu verlieren und lassen sich in ihrem Zorn gerne von den Rebellen
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