Die Traenen des Mangrovenbaums
erschien und meldete, eine der Türen im oberen Stockwerk sei abgeschlossen, und es hätte sich eine ungewöhnliche Menge Ameisen und anderes Ungeziefer an den Ritzen versammelt. Man würde sicherlich etwas finden, wenn man diese verdächtige Tür aufbrach.
So geschah es, und man fand den Leichnam von Godfrid Brägens.
In Dr. Liaos Kräuterapotheke standen der chinesische Arzt, seine Gehilfen, Edgar Zeebrugge und Anna Lisa um den nackten Leib des Mannes herum, der reglos in einer Zinkwanne mit heißer Kräuterbrühe lag. Seine Augen war blutunterlaufen, seine Haut gelb und schuppig, aber er atmete, wenn auch sehr schwach. Einer der Gehilfen massierte seine aus der Wanne ragenden Füße mit einem penetrant riechenden Öl, das eine stark die Durchblutung fördernde Wirkung hatte. Währenddessen stand Dr. Liao über seinen Kopf gebeugt, hielt ihm immer wieder die Nase zu, sodass er nach Luft schnappend den Mund aufriss, und träufelte mit einer Pipette eine ölig schillernde Flüssigkeit auf die Zunge.
Anna Lisa schien es, dass sie seit Stunden einen Albtraum durchlebte, aus dem sie nicht erwachen konnte. Sie hatte verlangt, dass man ihren Mann ins europäische Spital in Weltevreden brachte, das ja auch viel näher gelegen war als der Kräuterladen im Glodok, aber Zeebrugge hatte sich ihr widersetzt. Europäische Ärzte könnten nichts für einen Mann tun, der mit Rangdas Zunge vergiftet worden war. Wenn überhaupt jemand helfen konnte, dann der Chinese. Also hatten sie den Bewusstlosen in aller Eile ins Chinesenviertel geschafft. Aber auch Dr. Liao hatte besorgt den Kopf geschüttelt, als er den Namen des Giftes hörte: Es würde nicht leicht sein, einen Menschen zu retten, der von seiner furchtbaren Wirkung betroffen war. Man kannte kein Gegengift, denn die meisten Opfer starben so rasch, dass kein Arzt Zeit gehabt hatte, die Anwendung eines Antidots zu versuchen. Er wunderte sich, dass Simeon überhaupt noch am Leben war.
»Aber das ist ein gutes Zeichen«, sagte er. »Schwächliche Menschen sind oft zäher als große, kraftstrotzende, die unter dem ersten Hieb fallen. Wir wollen alles versuchen, was Rettung erhoffen lässt.«
Drei Tage kämpfte er unter Einsatz seines ganzen Könnens darum, das schwach flackernde Lebenslicht am Erlöschen zu hindern. Ohne Unterlass waren er und seine Gehilfen um den Todkranken bemüht, dessen Seele kaum weniger Qualen litt als sein Körper. Simeon fiel immer wieder in tiefe Bewusstlosigkeit, aber das waren noch seine besten Zeiten, denn wenn er bei Bewusstsein war, wurde er von grauenhaften Halluzinationen geplagt. Es war die am meisten gefürchtete Wirkung des Giftes: dass es den Geist angriff und Angstzustände hervorrief, ärger als die Albträume eines Opiumrauchers. Die Furcht allein genügte oft schon, um das Opfer zu töten, ganz abgesehen von der zerstörerischen Wirkung, die Rangdas Zunge auf den Körper ausübte. Simeon glich in diesen Tagen mehr einem Mann von sechzig Jahren als einem von Anfang zwanzig. Sein Gesicht war gelb wie Wachs, die Augen eingesunken, die ausgedörrten Lippen bedeckt von einer salzigen Kruste. In sein tabakbraunes Haar mischten sich graue Strähnen. Er erkannte niemand, nicht einmal seine Frau. Alle, die um ihn waren und sich um ihn bemühten, verwandelten sich in Schreckgespenster, die ihn bedrohten. Er verbrauchte seine schwachen Kräfte damit, sie abzuwehren, und Dr. Liao sah keinen anderen Weg, als ihm ein Schlafmittel zu verabreichen.
Dann, am vierten Tag, lichtete sich das Dunkel ein wenig. Körperlich wenigstens hatte Simeon sich so weit erholt, dass sie auf sein Überleben hoffen konnten. Er atmete regelmäßig, sein Herz schlug normal, und in seine blicklos starrenden Augen kehrte der Glanz des Lebens zurück. Der Chinese war sichtlich stolz auf den Erfolg seiner Behandlung, und er hatte ja auch jedes Recht dazu.
»Ab morgen«, verkündete er händereibend, »werde ich ein wenig mehr von dem …« (Anna Lisa verstand den Namen des Krautes nicht) »in das Elixier geben … wir können hoffen, ja, wir können hoffen, dass er nicht nur am Leben bleibt, sondern sogar …« Dann unterbrach er sich. Vielleicht, dachte die junge Frau, war er abergläubisch und wollte den Neid der Götter nicht durch verfrühte Hoffnungen reizen, vielleicht wusste er auch, dass Simeon im besten Fall überleben würde – wirklich leben würde er niemals mehr. Das Schiff seines Lebens war auf ein Riff gelaufen, von dem es nicht mehr freikam; es
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