Die Traenen des Mangrovenbaums
Plan war perfekt – konnte ich etwas dafür, dass der Typhus ausbricht und den alten Wolkins dahinrafft? Ich wollte Simeon aus dem Weg haben, aber ich wollte nie sein Mörder sein. Und deshalb, Madame« – er starrte sie mit einem Blick an, unter dem sie förmlich zusammenschrumpfte –, »werde ich den Behörden anzeigen, was geschehen ist.«
»Godfrid! Das würdest du nicht tun!« Aber gleichzeitig wusste sie, dass er es sehr wohl tun würde.
Ihr Leben lang war Delphine Lafayette eine vorsichtige Frau gewesen, eine, die ihre Hand zurückhielt, wenn ein Zuschlagen Gefahr für sie selber bedeutet hätte. Sie lauerte geduldig im Dunkeln, bis die Zeit zum Handeln gekommen war. Aber der giftige Absinth, dem sie verfallen war, hatte mit der Zeit weitaus schlimmere Verwüstungen in ihrem Verstand angerichtet, als sie selbst ahnte, und als ihr eigener Sohn – ihr über alles geliebter Sohn, für den sie keine Gefahren gescheut hatte – ihr den Rücken zuwandte, um zu gehen und sie den Behörden anzuzeigen, verlor sie den Verstand. Mit einer blitzschnellen Bewegung ergriff sie die Blumenschere, sprang Godfrid nach und stieß ihm die Schere mit aller Kraft seitlich in den Nacken, wo die dicke Lebensader pulste.
Er stürzte zu Boden wie ein Ochse unter dem Beil des Schlächters, so jählings tödlich getroffen, dass nur ein schwaches Ächzen aus seinem Mund drang. Er fiel und rührte sich nicht mehr, während das Blut in weiten Stößen aus der Halswunde spritzte.
Delphine stand reglos, das blasse Gesicht ausdruckslos. Mit den steifen Bewegungen einer aufgezogenen Puppe schritt sie zur Tür, drehte den Schlüssel, rief der vom Lärm aufgestört anklopfenden Zofe barsch zu, sie möge verschwinden; sie würde nicht mehr gebraucht. Als Ruhe eingekehrt war, wandte sie sich dem Körper auf dem Boden zu. Sie brauchte nicht weiter nachzusehen, ob er tot war. Sein Blut überschwemmte den Boden um ihn herum. Mit einer automatischen Geste hob die Frau ihre Röcke hoch, um den Saum nicht zu beschmutzen. Sie ging wie eine Träumende im Zimmer herum, wobei sie leise ein Lied vor sich hin summte, nahm die Blumen aus ihren Vasen, zupfte die Blüten ab und streute sie auf den hingestreckten Körper, das bläulich blasse Gesicht, in dem die Augen bereits glasig wurden. Schließlich sperrte sie die Tür auf, glitt hindurch und schloss hinter sich wieder ab. Stille senkte sich über das Haus.
Die chinesische Zofe, die am Morgen das Frühstück brachte und wie gewohnt die Bettvorhänge zurückzog, erstarrte vor Entsetzen. Im ersten Augenblick begriff sie gar nicht, was sie vor Augen hatte, und meinte, etwas völlig Fremdes und Unnatürliches vor sich zu sehen, das Madame Lafayettes Platz im Bett eingenommen hatte. Dann erkannte sie das spitzenbesetzte Nachthemd und die seidene Haube, die jetzt eine aufgequollene, mahagonifarbene Fratze umschloss. Mit einem gellenden Aufschrei stürzte sie davon, warf die Haustür hinter sich ins Schloss und kreischte draußen auf der Straße um Hilfe.
Von den Hausangestellten wurde ihr keine Hilfe zuteil. Kaum hatten die Leute das unzusammenhängende Gejammer der Zofe richtig interpretiert und verstanden, dass die Herrin tot war, flohen sie nach allen Richtungen – die einen aus Angst, dass man ihnen ihren Teil der Verantwortung an den Verbrechen der Toten zuschieben würde, die anderen, weil sie sich längst nach Freiheit gesehnt und es nur nicht gewagt hatten, sich aus dem Staub zu machen. Und jeder, die Unschuldigen wie die Schuldigen, raffte an sich, was er oder sie in der Eile in seinen Taschen unterbringen konnte, von den fürs Frühstück gebratenen Hühnerkeulen über silberne Löffel bis zu den kostbaren Kleidern und Schuhen, die Madame Lafayette dort, wo sie jetzt war, nicht brauchte.
Als die Vertreter der Behörde eintrafen, war das Haus menschenleer. Auch die chinesische Zofe war verschwunden. Der Wind spielte mit halb offen stehenden Türen. So eilig waren die Diener geflüchtet, dass in der Küche noch schwarz verschmorte Gerichte auf dem Herd rauchten, unter denen das Feuer zu löschen sich niemand die Zeit genommen hatte; im Flur lagen zwei zerbrochene Weinflaschen, deren kostbarer Inhalt Pfützen auf dem Boden bildete – sie waren zerschellt, als sie aus dem Korb fielen, den Koch und Kellermeister gemeinsam zum Hinterausgang geschleppt hatten. Im Speisezimmer hockten drei graue Äffchen auf dem Tisch und verzehrten das zur Hälfte angerichtete Frühstück. Als die
Weitere Kostenlose Bücher