Die Traenen des Mangrovenbaums
heranließen. Dann nahm Anna Lisa die Leine, und sie zogen los – besser gesagt: Tietjens zog und gestattete es der Begleitperson, ihre Leine zu tragen.
Der Spaziergang wurde angenehmer, als die junge Frau erwartet hatte. Den Nieselregen hatte man in Hamburg zurückgelassen, das Wetter war zwar düster, aber trocken und mild und die breite Wasserfläche der Elbe frei von all den Beunruhigungen, die so oft von einer aufgestörten Nordsee hereinströmten. Die Anne-Kathrin dampfte behaglich dahin, während ihre Passagiere auf die unterschiedlichste Weise damit beschäftigt waren, sich auf die lange Seereise einzustellen. Man richtete sich in den Unterkünften ein, wechselte die Kleidung, nahm das Schiff in Augenschein. Überall lehnten Passagiere an der Reling oder machten Spaziergänge über das Promenadendeck. Unter ihnen waren viele Männer mit dunkelhäutiger Dienerschaft im Gefolge. Manche dieser Männer waren Soldaten, andere zivile Beamte. Überall auf der Welt unterhielt Europa seine Kolonien, umklammerte die reichen Länder der Dritten Welt mit seiner militärischen und bürokratischen Macht.
Der umsichtige Schiffsarzt zeigte Anna Lisa, wo sie Tietjens an einer verborgenen Stelle zwischen den Kabinen erster Klasse ausführen konnte. Dort standen Eimer mit Sand, die als Feuerlöscher dienten. Eine Schaufel Sand würde verdecken, was geschehen war, und ein reichliches Trinkgeld würde dafür sorgen, dass stets ein Schiffsjunge oder Matrose zur Stelle war, um die Sache diskret aus der Welt zu schaffen. Mit den Stewards würde er reden. Auch hier würde ein Trinkgeld – eine Gefahrenzulage gewissermaßen – helfen, die Zusammenarbeit reibungslos zu gestalten; er empfahl allerdings sehr, Tietjens in Pahtis Kämmerchen zu sperren, während die Männer die Kabine besorgten.
»Ihr Gatte hängt sehr an dem Tier, nicht wahr?«, bemerkte er, während sie mit der würdig dahinschreitenden Hündin das Deck entlangschlenderten. »Hat er sie von klein auf?«
Anna Lisa gab wieder, was sie von ihrem Dienstmädchen und diese vom Kutscher der Vanderheydens gehört hatte. Dr. Lutter schien die Geschichte zu missfallen, obwohl sie für Tietjens gut ausgegangen war.
»Vor einem Menschen, der ohne Vorwarnung zuschlägt, muss man sich hüten«, sagte er. »Ich weiß, es steht mir nicht zu, Passagiere zu kritisieren …«
»Oh, Sie reden wie Dörte!« Es rutschte ihr ganz ungewollt heraus, und da sie es nun schon einmal gesagt hatte, musste sie ihm auch erzählen, welchen Argwohn ihre Freundin angesichts des Lichtbildes gehegt hatte.
Der Arzt legte beruhigend eine Hand auf ihren Arm. »Nein, ein Opiumraucher ist Ihr Gatte sicher nicht, sonst würde ihn nicht schon die bescheidene Dosis umwerfen, die ich ihm gegen die Schmerzen verabreicht habe. Ich denke, er ist einfach nur launisch und kann sehr jähzornig sein.«
»›Er ist so sanft und still, aber wenn er einem einen Tritt verpasst, dann merkt man sich den‹, sagte sein Diener.«
»Ja, das ist eine eigene Art Menschen. Stille Wasser sind tief, sagt der Volksmund, nicht wahr? Haben Sie ihn längere Zeit vor Ihrer Eheschließung gekannt?«
»Nein, meine Ehe wurde arrangiert.« Sie wusste selbst nicht, warum es ihr plötzlich peinlich war, diese doch ganz alltägliche Sache zuzugeben. Hastig setzte sie hinzu: »Aber ich hatte ein Lichtbild gesehen, und mein Vater fragte mich, ob es mir recht wäre, ihn zu heiraten. Da habe ich Ja gesagt. Ich meine, irgendeinen musste ich ja nehmen, und mein Vater kannte die Familie Vanderheyden schon lange. Er und Bartimäus Vanderheyden sind Geschäftspartner.«
»Bartimäus Vanderheyden? Der Kaffeehändler?«
»Ja, genau der.« Anna Lisa sah überrascht auf. Es war zwar nicht weiter verwunderlich, dass jemand den reichen Kaffeehändler kannte, aber Dr. Lutter hatte die Frage in einem eigentümlichen Ton gestellt – fast, als sei etwas nicht in Ordnung mit ihrem Schwiegervater.
Sie fühlte sich schuldbewusst, als hätte sie etwas falsch gemacht. Er musste ihr Unbehagen bemerkt haben, denn er fügte eilig hinzu: »Nun, letztendlich ist die Sache ja gut ausgegangen für ihn – sein Name wurde von aller üblen Nachrede befreit. Aber ein gewaltiger Skandal war es trotzdem.«
»Ich habe nie etwas von einem Skandal gehört.«
»Das glaube ich gerne. Vermutlich wusste auch Ihr Herr Vater nichts davon, denn die Gerichtsverhandlung fand in Batavia statt, wo Mevrouw Brägens ihren Wohnsitz hatte.«
»Brägens? Ich glaube mich zu
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