Die Traenen des Mangrovenbaums
erinnern, dass Simeons Bruder so heißt – Godfrid Brägens.«
»Einen Sohn hatte er also auch von ihr? Davon wusste ich nichts.« Es klang beinahe so, als machte Dr. Lutter sich selbst einen Vorwurf, dass es irgendeinen Klatsch gab, den er nicht kannte. Offenbar waren Schiffsleute das maritime Äquivalent zu den Fuhrleuten auf dem Lande: Sie erfuhren alles und trugen alles weiter. »Jedenfalls hatte Mijnheer Vanderheyden – die Vanderheydens hielten sich damals in Batavia auf – während der Schwangerschaft seiner Gattin ein Verhältnis mit einer ebenso reichen und schönen wie übel beleumundeten Französin, Delphine Brägens, geborene Lafayette. Er sagte später aus, das Verhältnis sei längst beendet gewesen, als Mevrouw Brägens vor Gericht gestellt wurde, aber sein Name war zu innig mit dem ihren verknüpft, als dass er ungeschoren geblieben wäre.«
»Vor Gericht gestellt!«, rief Anna Lisa. »Ja, was hatte sie denn getan?«
»Das weiß niemand«, antwortete der Schiffsarzt mit einem kryptischen Lächeln. »Sie wurde ja freigesprochen. Aber sie musste hart kämpfen, um nicht als Giftmörderin verurteilt zu werden. Es war doch zu verdächtig, dass gleich zwei Männer, die ihr im Wege standen und von denen sie große Geldsummen zu erwarten hatte, kurz hintereinander unter ungeklärten Umständen starben! Die Richter ließen sich allerdings überzeugen, dass die beiden Herren an einer Blutvergiftung beziehungsweise an einem hitzigen Fieber gestorben waren.« Er zögerte, dann setzte er mit einem Achselzucken hinzu: »Und wer weiß? Es kann durchaus so gewesen sein, denn bei all dem Schmutz, dem Ungeziefer und der schlechten Luft kann man sich rasch beide Arten von Krankheiten einfangen. Mevrouw Brägens wurde also freigesprochen und nahm sich, unbekümmert um das Gerede, das sich an ihre Schleppe heftete, einen weiteren Geliebten, während Mijnheer Vanderheyden und seine Gattin mit dem ersten Schiff nach Holland zurückkehrten und sich in Java nicht mehr blicken ließen.«
Anna Lisa war sprachlos. Bislang hatte sie gedacht, Godfrid sei nur deshalb eine Gefahr für Simeon, weil er geschäftstüchtiger und ehrgeiziger war; für einen bösen Menschen hatte sie ihn nicht angesehen. Aber der Sohn einer Ehebrecherin, die möglicherweise zwei Männer aus dem Weg geräumt hatte – wie viel von dem verderblichen Erbe trug er in sich?
Bis auf einige wenige Nächte zu Besuch bei Verwandten hatte Anna Lisa noch nie außerhalb ihres Vaterhauses geschlafen, und so breitete sich ein erdrückender Schleier der Melancholie über sie, als die Dämmerung hereinbrach. In der Kabine fühlte sie sich so beklommen, dass sie einen Kapuzenmantel überwarf und aus der Tür trat. Die meisten Passagiere der ersten Klasse waren beim Abendessen oder schon im Rauchsalon oder Billardzimmer. Auf den weiß getäfelten Gängen war es still. Wäre jemand unterwegs gewesen, man hätte ihn nicht gehört, denn die türkischen Läufer auf dem Boden dämpften den Schritt bis zur Unhörbarkeit.
Anna Lisa hätte Fräulein Bertram auffordern können, sie zu begleiten – die Sitte gebot, dass eine Dame nicht allein herumlief. Aber sie war so unglücklich, dass sie keinen Menschen neben sich ertragen hätte. Ein fiebriges Frösteln durchschauerte sie, als sie den Gang entlangeilte und, in ihr pelzverbrämtes Cape gehüllt, durch die doppelte Glastür aufs Deck hinaustrat. Die Wolken, die sich den ganzen Tag lang dicht über die Elbe gebreitet hatten, lösten sich da und dort auf wie zerschlissene Kleider. Inmitten eines scharf umzirkelten Lochs – das aussah, als hätte es jemand in ein zugefrorenes Fenster gehaucht – sank die Sonne als fahlorange Scheibe unter den Horizont. Einen Augenblick lang leuchtete sie auf, und als die sterbenden Strahlen so unerwartet das Deck erhellten, bot die Anne-Kathrin einen zauberhaften Anblick. Alle die schneeweißen Aufbauten flammten in kupferner Röte auf, und die der Sonne zugewandten Bullaugen und Luken schleuderten Blitze. Wo die Wolken aufgerissen waren, glühte das Licht des Sonnenuntergangs wie die Feuerlöcher eines Kessels. Ein düster roter Schein füllte den Himmel, sodass die Takelage sich dünn und schwarz wie die Netze einer Riesenspinne vom feurigen Hintergrund abhob. Dann, als hätte eine unsichtbare Hand sie abgedreht, erlosch die zauberhafte himmlische Illumination, ein schwermütiges Grau senkte sich über die Anne-Kathrin. Zwar antwortete das Schiff mit einem Aufleuchten der
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