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Die Traenen des Mangrovenbaums

Die Traenen des Mangrovenbaums

Titel: Die Traenen des Mangrovenbaums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne de Witt
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Deckbeleuchtung, und aus zahlreichen Bullaugen strömte Licht, aber die Nacht war unerbittlich angebrochen.
    Anna Lisa fühlte sich derart einsam, dass sie sich mit ihrem Seidenschal Tränen abtupfte. Fern von der Familie, von der sie bislang noch nie getrennt gewesen war, fern vom schützenden Vater, den freundlichen Brüdern, fern von der lieben alten Elsa, die sie immer noch behütet hatte, als wäre sie ein Kind … Allein auf den kalten Wassern der Elbe, über denen sich jetzt der Nachtnebel ausbreitete. Eine beklemmende Stille herrschte. Die Arbeit der riesigen Maschinen tief unten im Bauch des Schiffes konnte man hier nicht mehr hören, nur noch fühlen. Die Anne-Kathrin fuhr mit gedrosselten Maschinen, also war auch kein Fahrtwind mehr zu fühlen, der ihr am Mittag um die Ohren gepfiffen hatte. Das Schiff schien, als wäre es ein Geisterschiff, durch eine Zwischenwelt ohne Farben und Formen zu treiben, eine majestätische, einsame Insel im uferlosen Meer.
    Sie stützte sich auf die Reling, umklammerte das Eisenrohr, dessen feuchte Kälte sich sogar durch ihre Rehlederhandschuhe bemerkbar machte, und starrte senkrecht hinunter. Stockwerke tief unter ihr glitten die Silberbänder der Bugwellen dahin, phantastisch erleuchtet vom Glanz der Lampen, deren Licht aus den Bullaugen strömte. Halb vom Nebel verschleiert, formten sie schimmernde Arabesken auf den jetzt pechschwarzen Fluten der Elbe. Zweifellos strömten sie mit einem gewaltigen Rauschen dahin, aber dieses Rauschen verhallte im Nichts, noch ehe es das Ohr der einsamen jungen Frau an der Reling erreichte.
    Sie hob den Kopf und blickte hinauf in die von wallenden Nebelschleiern halb verhüllte Wölbung des Himmels. Was für eine Hochzeitsreise! Simeon hatte entschieden klargemacht, dass sie ihm nur Schmerzen bereiten würde, wenn sie neben ihm im Bett lag, also musste sie in ihrem Boudoir schlafen. Allein. Getrennt von einem Gatten, der völlig in seiner Wut, seinem körperlichen Schmerz und seiner Frustration versunken war. Er hatte Tietjens, die vor Mitgefühl zerfloss und bei jedem Stöhnen aufsprang, um ihm liebevoll die Hand zu lecken. Er hatte Pahti, für den es selbstverständlich war, dass er die Nacht in Rufweite seines Gebieters verbrachte; die Tür zwischen dem Schlafzimmer des Herrn und dem schrankgroßen Kämmerchen des Dieners blieb einen Spalt offen. Und was hatte Anna Lisa?
    Rein gar nichts.
    Auf einmal war ihr die feuchtkalte Nacht an Deck unerträglich – dieser lautlose, grauschwarze Hades mit seinen wabernden Nebeln. Aufschluchzend verbarg sie das Gesicht im Schal und rannte mit stolpernden Schritten zurück in ihre Unterkunft.
    Simeon Vanderheyden lag im schwachen Licht der tief heruntergedrehten Lampe in dem breiten Bett, das sein Ehebett hätte sein sollen. Er fühlte sich so elend wie nie zuvor. Ein verstauchtes Bein war schon lästig genug; es war dick angeschwollen, es tat weh, und es stank nach der Eukalyptussalbe, mit der Dr. Lutter es behandelt hatte. Aber zu diesem Grundübel kamen noch andere, die unmittelbar daraus entsprangen. Er erstickte beinahe an der Wut darüber, wie ein boshaftes Schicksal seine schönsten Hoffnungen zerstört – oder jedenfalls auf unbestimmte Zeit in die Zukunft verschoben hatte. Da hatte er gedacht, er könnte seinen Dämon domestizieren, ihn durch ein geregeltes Eheleben an die Kette legen, und was war daraus geworden? Ständig lief ihm eine bezaubernde junge Frau vor der Nase herum, lockte ihn, reizte ihn, duftete verführerisch, sprach mit sanft melodischer Stimme, bewegte sich wie eine Weide im Wind – und er lag da, wie Prometheus an den Felsen gekettet, während der Dämon der Lust an seiner Leber fraß! Nicht einmal der übliche Ausweg aller einsamen Männer stand ihm offen. Er hatte es probiert und festgestellt, dass die heftigen Konvulsionen des Höhepunkts sich anfühlten, als würde mit Keulen auf sein krankes Bein eingeschlagen. Mitten in der Ekstase durch ein solches Sperrfeuer von Schmerzen frustriert zu werden, war beinahe unerträglich gewesen. Das Opium entfaltete eine niederträchtige doppelte Wirkung: Es lähmte seine Manneskraft, aber es stillte nicht das Verlangen. Statt ihn zu beruhigen, füllte es ihm Kopf und Herz mit abstrusen, krankhaften lüsternen Phantasien, die ihn zugleich anwiderten und aufpeitschten.
    Und da Pahti ständig um ihn besorgt war, ihn zum Abort schleppte, ihn wusch, ihm Rücken und Gesäß mit der Salbe eincremte, die Dr. Lutter gegen die

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