Die Traenen des Mangrovenbaums
wurden sie samt ihren Gepäckstücken mit unsanften Stößen weiterbefördert. Stolpernd kletterten sie die hohen Landungsbrücken empor. Sie kamen nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus Russland, Polen, aus dem Balkanraum, aus Norwegen und Finnland, alle getrieben von der Hoffnung, in fernen Ländern ein besseres Leben beginnen zu können.
Die wenigsten sahen froh und unternehmungslustig aus. Ihre Gesichter waren angespannt und von der bangen Frage gezeichnet, ob sie mit ihrer Entscheidung nicht vom Regen in die Traufe gerieten. Zu viele schreckliche Geschichten hatte man von Verwandten und Bekannten gehört: Viele, die sich frohen Herzens auf den Weg gemacht hatten, waren gescheitert, ehe sie die ferne Küste überhaupt erreicht hatten. Manche hatten es nicht einmal bis an Bord des Schiffes geschafft, sondern waren schon im Hafen Opfer der Betrüger oder Räuber geworden, die in den naiven Landleuten ihre besten Opfer fanden. Und wer es an Bord schaffte, war auch nicht zu beneiden: Auf der blauen Weite des Ozeans lauerten Tropenstürme, Seeräuber, heimtückische Riffe und noch heimtückischere Krankheiten. So manches stolze Schiff war spurlos verschwunden, und man hatte nie wieder von Besatzung und Passagieren gehört.
Anna Lisa brach das Herz beim Anblick der bleichen Frauen, die in ihre Umschlagtücher gewickelt an Bord gingen, begleitet von hageren, verzweifelt aussehenden Männern und jammervollen Kindern. Sie schämte sich dann geradezu, dass es ihr so gut ging – jedenfalls materiell. Und sie schämte sich angesichts dieser tapferen Frauen, die fast ohne Geld in eine ungewisse Zukunft reisten, in der verzweifelten Hoffnung, dort das Nötigste für sich und ihre Familien erwerben zu können. Frauen, von denen manche nicht älter waren als sie!
Plötzlich hatte sie die Stimme ihres Vaters im Kopf, wie er zu ihr sagte: »Mein Püppchen.« Sie erinnerte sich daran, wie aus ihrer kindlichen Freude über diesen Kosenamen allmählich ein gewisser Ärger geworden war. Püppchen! Schön und gut, wenn man es zu einem fünf- oder sechsjährigen Mädchen sagte, aber er hatte das Wort noch gebraucht, als sie bereits verheiratet war. Und sie wollte kein Püppchen mehr sein!
Dr. Lutter suchte sie zu trösten. »Es hat sich bereits vieles verbessert. Heute, im Jahr 1880, kann man sich gar nicht vorstellen, was es noch vor fünfzig Jahren bedeutete, per Schiff auszuwandern. Der schmale Platz in den winzigen Fünfhundert-Tonnen-Dampfern wurde mit billig Reisenden gefüllt, die keinerlei Komfort zu erwarten hatten. Sogar ihr Essen mussten sie selbst mitbringen, und dauerte die Reise länger als geplant, so konnte es ihnen durchaus passieren, dass sie verhungerten. Und heutzutage setzt man wenigstens alles dran, die Schiffe sauber zu halten und auch die Zwischendeckpassagiere ordentlich zu versorgen – früher starben bei jeder Reise drei von hundert Auswanderern, so jämmerlich ging es auf den Schiffen zu.«
Als Anna Lisa während dieser Rede den Blick über die Auswanderer schweifen ließ, fiel ihr eine vielköpfige Familie auf, Deutsche, ihrer Tracht nach zu schließen, und unter ihnen vor allem ein etwa elfjähriges Mädchen. Alle Kinder hatten blassblondes Haar, aber dieses Mädchen war schwarzhaarig mit dunklen Augen. Sie trug ein blaues Drillichkleid mit einer weißen Schürze und einen Kapuzenmantel aus Wollstoff, der ihr zu groß war, vermutlich ein Erbstück der Mutter, so abgetragen war er bereits. Das Mädchen sah genauso ernst aus wie seine Geschwister, aber es hatte nicht deren vorzeitig verhärmtes Aussehen. In ihren schmalen, straffen Zügen, ihren schwarz umschatteten Augen brannte eine wilde Entschlossenheit. Sie bewegte sich wie ein kleines Tier, das sich in einer gefährlichen Umgebung zurechtzufinden sucht, wachsam und argwöhnisch, aber auch mit offenen Augen für jede Chance, die sich ihr bieten mochte.
Dr. Lutter, der ihr plötzliches Interesse bemerkt hatte – ihm entging nicht viel –, sagte: »Sie werden in Java jedenfalls auf genug Landsleute treffen, wenn auch nicht aus Ihrer sozialen Schicht. Das Elend in Deutschland schreit zum Himmel. Ganze Landstriche sind verarmt, seit die Maschinen Einzug gehalten und das Handwerk ruiniert haben.«
Sie hörte zu, wie er ihr erzählte: In Thüringen und Sachsen, im Erzgebirge, im Vogtland, im Harz und im Elbe-Weser-Dreieck hatten die Menschen seit jeher ein kümmerliches Leben geführt, oft von der Hand in den Mund. Aber dann waren
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