Die Traenen des Mangrovenbaums
gewiss auf den neuen Teil zu, auf Weltevreden und Koningsplein, aber es besteht ein drastischer Unterschied zu der 1621 erbauten Altstadt, der benenstad , wie die Holländer sie nennen.«
Dieser alte Teil, berichtete er, sei eine genaue Kopie von Amsterdam mit seinen Warenspeichern und Grachten, es wohnten aber kaum Europäer dort. »Gegenwärtig«, sagte er, »besteht sie fast nur aus den Kontoren und Speichern der Kaufleute, den Magazinen der Handelsgesellschaft und den Wohnungen von Eingeborenen, Chinesen und den Nachkommen schwarzer Sklaven, die von den Portugiesen ins Land gebracht wurden. Der Sitz des Handels ist sie freilich geblieben, und den Tag über, wenn Beamte, Marktleute, Käufer und Verkäufer hereinkommen, geht es dort zu wie in einem Bienenstock.«
Sobald jedoch die Dämmerung hereinbrach, flüchteten die Europäer in ihre luftigen Häuser in den Vorstädten, und die hohen, schmalen Häuser mit den roten Dächern lagen verlassen, denn mit der Nacht kam die Angst vor den Fieber erzeugenden Ausdünstungen des Schwemmlandes. Nach vier Uhr nachmittags sah man keinen Europäer mehr in der Kota, wie diese Altstadt von den Javanern genannt wurde. Alles flüchtete in den hochgelegenen neueren Teil, und erst um neun Uhr morgens, wenn der Wind frisch vom Meer hereinblies, wagten sie sich wieder herbei. Diese Neustadt hatte man auf einer sechs Kilometer entfernten, höher gelegenen Ebene angelegt. In frischer Luft und neuen Häusern fühlten die Holländer sich so wohl, dass sie den neuen Stadtteil »Weltevreden« nannten: wohlzufrieden. Seitdem bauten alle, die es sich leisten konnten, sich ein Haus in Weltevreden, sodass weit zerstreute Siedlungen entstanden. Später wurde dann eine andere, ebenfalls höher gelegene Fläche, der Koningsplein, mit regelmäßigen Straßen angelegt. Während auf diese Weise hier eine neue Stadt erstand, war die alte mehr und mehr dem Verfall preisgegeben.
Anna Lisa sah nachdenklich in das bunte Treiben. Es faszinierte sie, was sie sah, aber noch stärker beschäftigte sie das, was Dr. Lutter ihr soeben Neues über Batavia erzählt hatte.
Schließlich machten die Schlepper wieder an der Anne-Kathrin fest, die Sirene brüllte ihren Abschiedsgruß, und das riesige Schiff wurde vorsichtig aus dem Hafen in die offene See hinausgezogen. Die Reise ging weiter.
Der Suezkanal kürzte die Reise, die vor seiner Fertigstellung im Jahr 1869 um den ganzen schwarzen Kontinent herumgeführt hätte, beträchtlich ab. Dennoch schien Anna Lisa die Reise schier endlos. Die Anne-Kathrin war ja nicht auf gerader Route nach Batavia unterwegs, sondern legte in jedem bedeutenden Hafen für zwei, manchmal auch drei Tage an, um Kohle zu bunkern und die Trinkwasser- und Proviantvorräte aufzufüllen, sodass es bereits Mai war, als sie Afrika erreichten. Anna Lisa hatte gedacht, in Afrika müsste es immerzu heiß sein, Tag und Nacht, aber da hatte sie sich geirrt. Das Wüstenklima Ägyptens brachte Nächte mit sich, in denen die Temperatur unter null fiel und vorwitzige Reisende zu Eis zu erstarren drohten. Auf den schroffen Kontrast zwischen glühenden Tagen und eisigen Nächten in den Wüstengegenden folgte, als sie Djibouti erreichten, eine dampfende Schwüle, die in der Nacht nicht nennenswert nachließ. Tropische Regengüsse wechselten mit wolkenlosen, sonnigen Tagen. Anna Lisa, Fräulein Bertram und Gesine in ihren eng anliegenden, hoch geschlossenen Kleidern, ihren Zwirnstrümpfen und flanellenen Unterkleidern troff der Schweiß über Bauch und Rücken, ihre Haare waren beständig feucht und hingen schlaff herab. Oft mussten sie mehrmals am Tage die Wäsche wechseln. Anna Lisa beneidete Pahti, der in seinem losen Baumwollanzug so frisch und luftig herumlief, und Simeon, der selten mehr als einen Hausmantel anlegte. Sich anzukleiden, war mit einem wiederholten Strecken und Beugen des verstauchten Beins verbunden, das die fast erloschenen Feuer des Schmerzes wieder anfachte, also ließ er es bleiben.
Nicht nur er selber war frustriert von den so lange anhaltenden Schmerzen, sondern auch Anna Lisa. Sie hatte gedacht, die Verstauchung würde in einigen Tagen wieder ausgeheilt sein – und nun sagte ihr Dr. Lutter, dass Verstauchungen, vor allem so schwere, wie Simeon sie erlitten hatte, den Patienten viele Wochen lang nicht verließen. Dass er krank war, hieß aber auch, dass er schlecht gelaunt war und sie sich ständig darum bemühen musste, ihn aufzuheitern.
Die Methode der Wahl hatte sie ja
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