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Die Traenen des Mangrovenbaums

Die Traenen des Mangrovenbaums

Titel: Die Traenen des Mangrovenbaums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne de Witt
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dem anderen zu verjagen. Und manche Menschen tun das auch, wenn ihre Seele schmerzt. Ich glaube, Ihr Gatte hat viel gelitten.«
    »Sein Vater ist ein Scheusal«, stieß Anna Lisa erbittert hervor. »Er hat ihn immer wieder gekränkt und beleidigt, er hat ihm die Schuld daran gegeben, dass dieser dumme Handwerker den Schleier nicht ordentlich annagelte und er die Treppe hinabstürzte, er hat sogar behauptet, er sei ein … ein unnatürlicher Mann, nur weil er sich gerne mit Blumen beschäftigt! Und Sie meinen, er hat sich so zerschnitten, damit es ihm innerlich nicht so wehtut?«
    »Ja. Wie gesagt, da ist er nicht der Einzige. Wenn der Schmerz unerträglich wird, sucht man Erleichterung. Manche Männer trinken, andere verfallen dem Äther oder dem Opium, wieder andere stürzen sich in Schlägereien. Ihr Gatte hat den Weg gewählt, sich selbst zu verletzen.«
    »Muss ich mir deshalb Sorgen machen?«
    »Nicht unmittelbar. Er scheint recht vorsichtig vorzugehen, keiner der Schnitte ist, soviel ich gesehen habe, wirklich tief. Ich glaube, es befriedigt ihn vor allem, sein eigenes Blut fließen zu sehen, ob die Wunde nun groß oder klein ist.«
    »O mein Gott!« Anna Lisa presste erschrocken die Hände zusammen. Eine Welle des Mitgefühls überschwemmte sie. »Der Unglückliche! Wie kann ich ihm helfen?«
    Dr. Lutter ergriff ihren Arm und drückte ihn sanft. »Ich glaube, Sie helfen ihm bereits sehr viel. Er macht mir einen viel ruhigeren Eindruck als am Anfang. Natürlich spielt es dabei eine Rolle, dass seine heftigen Schmerzen nachgelassen haben und wir auch das Opium absetzen konnten, das bei all seiner heilsamen Wirkung doch recht unangenehme Nebenwirkungen hat. Aber ein Großteil des Verdienstes, liebe Frau Vanderheyden, geht gewiss an Sie.«
    Sie errötete schamhaft. »Ihr Büchlein war eine große Hilfe.«
    »Sie müssen immer bedenken, dass Ihr Schicksal nicht einzigartig ist. Denken Sie nur an die vielen Kriegsinvaliden oder die Opfer von Sportunfällen oder Kranke, die lange das Bett hüten müssen. Sie alle haben ihre Bedürfnisse, oft genauso stark wie Gesunde. Meiner Meinung nach ist es sehr unverständig von den Geistlichen, dass sie sich auf eine einzige Art des ehelichen Verkehrs festlegen und alle verdammen, die sich nicht nur zum Zweck der Kinderzeugung vereinigen. Ich weiß, das sind rebellische Worte, man hat mich dafür auch schon einen gottlosen Schurken genannt, aber lieber widerspreche ich einem Pfaffen, als ein junges Ehepaar leiden zu sehen.«
    »Sie sind wunderbar. Ich werde Ihnen nie vergessen, was Sie für uns getan haben.«
    Er nahm ihre Rechte mit beiden Händen und drückte sie.
    Anna Lisa hatte ihren Mann durchaus richtig eingeschätzt: Es war ihm nicht eilig mit dem Vollzug der Ehe. Aber die junge Frau konnte nicht wissen, warum er zögerte. Es lag wahrhaftig nicht daran, dass er kein Interesse an dieser Gemeinschaft gehabt hätte. Im Gegenteil, er konnte kaum an etwas anderes denken. Aber sooft er sich in lüsternen Träumen ausmalte, wie er sich aufbäumte und seinen kraftvollen Schaft in das weiche, rosige Fleisch seiner Frau senkte, wehte es ihn an wie ein kalter Wind, und er sah seine verhärmte Mutter vor sich, das Gesicht nass von Tränen, die Lippen verkniffen, wie sie ihm – dem völlig Ahnungslosen und Unschuldigen – vor Wut und Widerwillen bebend die Worte entgegenschleuderte: »Wie ein Tier – wie ein scheußliches wildes Tier – nur Schmerzen – Schande – Ekel …« Bei der Erinnerung versagte seine sonst so unerschöpfliche Kraft, eine lähmende Schwäche überkam ihn. Er fühlte sich wie von der Hand eines Gespenstes berührt, und sein Körper weigerte sich, das Unrecht zu begehen, das die Mutter ihm vor Augen gemalt hatte. Er liebte Anna Lisa, wie konnte er ihr etwas so Widerwärtiges antun? Ihm war schon kalt vor Angst gewesen, sie könnte ihn mit Abscheu betrachten, als er sie verlockt hatte, ihn zu streicheln; er wagte kaum zu glauben, dass sie nichts Abstoßendes daran gefunden hatte. Im Gegenteil, als sie ihre erste Unsicherheit und jungfräuliche Scheu überwunden hatte, war ihr das Spiel recht gefällig gewesen. Wie hatte sie gelacht und erfreut die Hände zusammengeschlagen, als hätte er sie mit einem possierlichen Zauberkunststück überrascht! Aber das alles war ja außerhalb ihrer selbst gewesen, nur die Hände hatte sie sich an ihm schmutzig gemacht; er musste keine Sorge haben, dass er ihr wehtat. Dass sie ihm versicherte, die Vollendung

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