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Die Traenen des Mangrovenbaums

Die Traenen des Mangrovenbaums

Titel: Die Traenen des Mangrovenbaums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne de Witt
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trotz aller Bemühungen des Personals. Zu viele Menschen, zu wenig Raum. Anna Lisa mochte gar nicht daran denken, wie es erst in den Quartieren der zweiten und dritten Klasse aussah und roch.
    Es war Vormittag, und Anna Lisa beschattete ihre Augen trotz der breiten Hutkrempe zusätzlich mit den Händen, um nicht von der grellen Tropensonne geblendet zu werden. Es wurde zusehends heißer, und die Sonne stach sie trotz ihres dichten Schleiers so heftig im Nacken, dass sie befürchtete, einen Sonnenbrand zu bekommen. Sie kam kaum mehr nach damit, sich die Stirn abzutrocknen und mit dem zierlichen Elfenbeinfächer Luft zuzufächeln. Dennoch fand sie, dass es sich gelohnt hatte, der Hitze zu trotzen, so wunderbar war der Anblick, der sich ihnen bot. Ganz allmählich, als steige sie in majestätischer Ruhe aus den Tiefen des Ozeans auf, erhob sich vor ihr die Landmasse des Malaiischen Archipels und trennte Himmel und See voneinander. Je größer Sumatra für sie wurde, desto deutlicher war die Farbe der Insel als ein sattes Avocadogrün erkennbar. Anna Lisa fühlte sich bei ihrem Anblick wie der Erzvater Noah, als die Taube mit dem Ölzweig im Schnabel zurückkehrte und ihm verkündete, dass es wieder Land auf Erden gab. Es würde eine Wonne sein, wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren und nicht bei jedem Schritt gewärtigen zu müssen, dass er schaukelnd unter einem wegrutschte, wie es selbst bei einem großen Schiff immer wieder der Fall war. Und welche Sehnsucht empfand sie inzwischen danach, wieder Büsche und Blumen zu sehen, das Gezwitscher von Vögeln zu hören, auch einmal andere Tiere als nur Tietjens zu sehen!
    Die Anne-Kathrin änderte ihren Kurs von Südost auf Südsüdost, denn um Padang anzulaufen, musste sie zwischen dem Festland von Sumatra und einer Inselkette hindurchfahren, die in lang gestreckter Reihe wie ein Schutzwall vor der Küste lag. In dieser Wasserstraße herrschte lebhafter Betrieb; es wimmelte von Dhaus, Dschunken, Prahms, Proas und Pirogen und anderen exotischen Schiffstypen, deren Namen Dr. Lutter ihr nannte. Aber nicht nur wegen der vielen kleinen Schiffe musste die Anne-Kathrin die Maschinen drosseln. Gefährliche Untiefen zwangen den Kapitän dazu, die Fahrt zu verlangsamen. Der Lotse, ein einheimischer Seemann, kam an Bord und übernahm das Steuer. Er ließ die Segel reffen und fuhr mit Dampfkraft langsam in die schwierige Fahrrinne ein.
    »Schöner Flaschenhals, wie?«, bemerkte Dr. Lutter. »Aber warten Sie ab, bis wir die Sundastraße erreichen, da wird es erst richtig eng.« Die Meerenge zwischen Java und Sumatra war bei den Seeleuten gefürchtet wegen ihrer geringen Tiefe, die an manchen Stellen nur zwanzig Meter betrug, der heimtückischen unterirdischen Riffe und der sich ständig ändernden Fahrrinne, vor allem aber wegen der zahlreichen – freilich zum Teil nur sehr kleinen – Vulkane, die Gas und pulverisiertes Gestein in die warme Luft pusteten.
    Dr. Semmelbrod, der weiterhin als Anna Lisas »Kavalier« tätig war, lehnte neben ihnen an der Reling und beobachtete das Schauspiel. Plötzlich deutete er auf die Wasserfläche. »Sehen Sie das auch, Doktor?«, wandte er sich an den Schiffsarzt. »Die Wellen! Wie merkwürdig sie gegeneinanderspringen!«
    Anna Lisa folgte mit den Blicken seinem ausgestreckten Zeigefinger. Sie verstand nichts von den Eigenheiten des Ozeans, wusste nicht, womit er seine gute oder schlechte Laune zu erkennen gab, aber das Wasser sah tatsächlich ungewöhnlich aus. Die Anne-Kathrin pflügte sehr langsam durch die gefährliche Wasserstraße, es war also nicht ihr Bug, der die Unruhe verursachte, und doch sprangen die Wellen gegeneinander und übereinander, als tosten die unterschiedlichsten Strömungen kreuz und quer durch den engen Kanal.
    Dr. Semmelbrod fuhr fort: »Und da ist noch etwas, das mir nicht geheuer ist. Das Thermometer fällt.«
    Anna Lisa warf einen raschen Blick auf den Himmel, der wolkenlos, aber im Nordosten, wo die Sundastraße lag, von einem missfarbenen Dunst bedeckt war. Über die Küste von Sumatra zog sich ein bräunlicher Schleier, dünner als eine Rauchschwade, dünner als eine Nebelbank, aber immer noch dicht genug, um die Umrisse zu verschleiern und das satte Grün der steilen Abhänge in ein stumpfes Graubraun zu verwandeln. »Sie meinen, es kommt ein Sturm? Aber ich sehe keine Wolken.«
    Der Spiritisten-Pfarrer schüttelte den Kopf. »Nein, keine Rede von einem Sturm. Ich sagte Thermometer, nicht Barometer.

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