Die Tränen meines Vaters
abgespannte Gesicht eines alternden Kindes, ihre Lippen hatten dieselbe Farbe wie ihre Wangen und ihre klare Stirn. Als der Winter hereinbrach, wurden ihre zartenLippen rissig, und sie trug immer wieder einen Lippenbalsam auf, der ihren Mund unter den harschen Leuchtröhren glänzen ließ.
Nicht nur dass Frau Mueller zu oft Englisch sprach: als die Zeit kam, da die Kursteilnehmer zu den ihnen aufgegebenen deutschen Texten geprüft werden sollten, wischte sie sie beiseite, als sei jedem klar, was sie bedeuteten. Ed war so gut wie gar nichts klar, einschließlich des Unterschieds zwischen
noch
und
doch
.
Doch
schien unübersetzbar zu sein, ein reines Flickwort, wie das englische Wort «well» – aber die Nützlichkeit und der Sinn von «well» waren, ohne dass man darauf hinweisen müsste, offensichtlich. Andrea regte sich nicht so auf wie er, wenn sie auf eine sprachliche Hürde stieß. Sie fingen an, sich während des Unterrichts nebeneinanderzusetzen und landeten mit Übungsstücken, die sie zusammen durcharbeiteten, entweder in den zwei untermöblierten Räumen, die er im South End gemietet hatte, oder auf dem Sofa oder dem Bett in Andreas Apartment in der zweiten Etage eines stattlichen Cambridge-Hauses an der Fayerweather Street. Die vornehme Besitzerin, eine Professorenwitwe, hielt an ihrem Haus fest, obwohl es ihre Mittel überstieg. Andrea teilte sich die zweite Etage mit einer Cellistin, die oft zu Auftritten unterwegs war. Sie selbst war Teilzeitbibliothekarin und hatte abends in einer Filiale der städtischen Bücherei im Osten der Stadt Dienst. Ihr Vergrabensein in Büchern und ihre erworbene Fähigkeit, akustisch zu entziffern, was die minderjährigen Kunden der Bibliothek wünschten, ermöglichten es ihr, durch die nebulösen deutschen Texte in eine Sphäre menschlicher Bedeutung zu schauen. Er erlebte es sogar einmal, als sie sich Seite an Seitemit einer Passage von Brecht beschäftigten, dass sie über einen Witz lachte, der ihr soeben aufgegangen war. Weibliche Intuition: Arlene zu Hause in New Hampshire hatte sie auch gehabt, sie aber immer weniger benutzt, um seinen Bedürfnissen zuvorzukommen. Wenn er und diese neue Frau, ein in die Jahre kommendes Blumenkind, eine Vegetarierin und ein Peacenik, sich liebten, erschien Andrea wie eine hauchzarte Ausdehnung seiner eigenen Wünsche. Ihre sanfte Schüchternheit verschmolz mit einer Eingeweihtheit, einer Erfahrung mit anderen Partnern, die Ed leicht enervierte. Sie war auf eine Weise, die sich zu seinen Gunsten auswirkte, verdorben.
Dass er und Andrea zu einer Art Paar in der Deutschklasse wurden und dass sie um einiges älter waren als die anderen Schüler, trug ihnen eine unerwartete Ehre ein; vor Weihnachten, als das erste Semester zu Ende ging, lud Frau Mueller sie zum Tee ein. «Nur wenn’s Ihnen recht wäre», sagte sie.
«Sie haben den Konjunktiv benutzt!», sagte Ed.
Sie lächelte halb – ihr Lächeln war selten mehr als halb, verdünnt durch eine nagende Vorsicht – und sagte: «Ich glaube, es war nur das Konditional.»
Sie wohnte in einem von drei geduckten Ziegelapartmenthäusern auf einem alten Kenmore-Square-Industriegelände; der Komplex sah wie ein modernes Gefängnis aus, eines mit den neuen kleinen Fenstern, nur dass der Stacheldraht und die Wachtürme fehlten. Ed und Andrea wären nicht hingegangen, wenn sie gewusst hätten, wie man eine Einladung ablehnen sollte, die unbeholfen die amerikanische Trennlinie zwischen bezahltem Unterricht und sozialem Umgang überschritt. «Was meinst du?», fragte Ed.
«Nein danke?»
«Man will sie doch nicht kränken», sagte Andrea. Diese Exkursion war kein kleiner Schritt für beide – zum ersten Mal würden sie als Paar zu Gast sein. Als Geschenk suchten sie etwas aus, das sie nach langer Überlegung für speziell amerikanisch hielten: eine Blockhütte aus Blech, gefüllt mit Ahornsirup. Allerdings, ohne Pfannkuchen, hatte Ahornsirup da überhaupt einen Sinn?
Sie waren nicht darauf gefasst, dass ein Mann, der mit dem dick aufgetragenen Akzent eines auf der Bühne den Deutschen Spielenden sprach, über die Sicherheitssprechanlage am Eingang auf ihr Klingeln antwortete und sie im dunklen Flur begrüßte. «Ich bin Hedwigs Mann, Franz», sagte er und sprach den Namen «Hettwig» aus. «Es ist sehr entgegenkommend, dass Sie uns besuchen.» Auch er schien die Veranstaltung ein wenig merkwürdig zu finden, dies verlegene Handausstrecken.
Tee, stellte sich heraus, wurde nicht angeboten,
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