Die Tränen meines Vaters
hieß
Deutsch als Fremdsprache
, ein schmaler blauer Band, zusammengestellt, wie der vielsprachige Einband verkündete, für Mitglieder jeder anderen Sprachfamilie. Das Buch war mit Photographien illustriert, die Ed befremdlich fand – die Leute auf den Photos hätten Amerikaner sein können, wäre da nicht dies Förmliche gewesen und die Allgegenwart von Mercedes-Autos. Die Männer, selbst die Automechaniker, trugen Schlips, und die jungen Frauen zeigten sich stolz in leicht veralteten Miniröcken und Jackie-Kennedy-Frisuren, hochtoupierten, mit Glanzspray besprühten Haargebilden. Eds älterer Bruder hatte bei der Gegenoffensive in den Ardennen eine Schrapnellwunde und ein lebenslängliches Hinken davongetragen, und Ed hatte etwas gegen den pedantischen, unblutigen Wohlstand, der sich in diesen Illustrationen zeigte. Während die Vereinigten Staaten den Einsatz von Truppen riskierten und bankrottgingen, weil sie das beschützten, was die Russen von Deutschland übriggelassen hatten, schwelgten diese geschlagenen Hunnen geschniegelt und gebügelt in einem Bilderbuchkapitalismus.
Frau Mueller sah nicht aus wie die wohlfrisierten Frauen auf den Photographien. Ihre Haare, strohfarben, ins Graue hinüberblassend, waren zu einem streifigen Pferdeschwanz zusammengebunden; einzelne Strähnen hingen ihr unordentlich ums Gesicht. Sie kleidete sich in der zerstreuten Cambridge-Art, fügte Wollschichten hinzu, als der Sommer schwand und der Herbst in den Winter überging. Es kam Ed so vor, als sei sie viel älter als er, aber vielleicht betrug der Unterschied höchstens fünf Jahre: sie hatte einfach mehr gelitten. Ihre Nase endete in einer scharfen Spitze, die von ständigem Schnupfen gerötet war; ihre dicken Brillengläser vergrößerten blassbewimperte Augen, die manchmal blinzelten, als sei ihr etwas Witziges eingefallen, das zu erklären zu viel Mühe machen würde.
Obgleich
Deutsch als Fremdsprache
kein Englisch enthielt, war Frau Muellers begleitende Anleitung mit Englisch gespickt, zum großen Teil befasste sie sich mit den Feinheiten der englischen Grammatik. Er wusste, dass das ein Fehler war; er hatte an genügend Sprachkursen teilgenommen – Französisch, Spanisch, beides weitgehend vergessen –, um zu wissen, dass die moderne Methode, hundertfach erprobt, darin bestand, ganz und gar einzutauchen, egal wie anstrengend es zu Beginn für die Schüler und den sie unterrichtenden Einheimischen war. Als sie zum deutschen Konjunktiv kamen, ließ sie die Klasse wissen: «Ihr englischer Konjunktiv fasziniert mich. Er kommt mir – wie soll ich sagen – nicht ganz ernst vor. Wann wendet man ihn an? Nennen Sie Beispiele.»
«Wenn ich König wäre», bot Ed zögernd an.
«Wenn jeder Mensch sündigte», ließ sich schüchtern eine Schülerin namens Andrea vernehmen – sie zitierte, erkannte Ed, aus dem
Book of Common Prayer
.
Frau Muellers Augen flitzten blinzelnd von einem zum andern in ihrer überwiegend stummen kleinen Herde. «Ah!», sagte sie triumphierend, «Sie müssen nach Beispielen
suchen
! Wenn der Konjunktiv im Englischen nicht existieren würde – wenn er nicht existierte, müsste es korrekt heißen? –, würde niemand ihn vermissen! Niemandem würde es auffallen! Das ist im Deutschen nicht der Fall. Wir wenden ihn die ganze Zeit an. Es nicht zu tun wäre eine ernste Unhöflichkeit. Das, was man sagt, würde – kann man das so ausdrücken? – taktlos direkt klingen. Den Deutschen wird immer nachgesagt, sie seien taktlos, nicht? Ich finde es faszinierend, die Lässigkeit im Englischen.»
«Aber – Englisch hat Regeln»
, protestierte Ed und hoffte, dass
Regeln
der richtige Plural war und der Akkusativ stimmte. Die übrigen Kursteilnehmer sahen ihn an, als sei er verrückt geworden, sich auf Deutsch mitteilen zu wollen.
«Grammatische Regeln»
, sagte Frau Mueller lächelnd.
«Aber es ist nur eine Kleinigkeit.»
Ed fand Deutsch unangenehm und undurchsichtig; die Nähe zum Englischen machte ihn konfus. Als er in der Lektion «Im Restaurant» die höfliche Frage des fiktionalen Herrn Weber las:
«Vielleicht möchten Sie einen Tisch am Fenster?» ,
musste er gegen den Impuls ankämpfen, aus
Tisch
«dish» zu machen und aus
Fenster
«fender». Er hätte den Unterricht aufgeben können, wäre nicht Andrea gewesen. In dieser aus den Fugen geratenen Episode seines Lebens strahlte sie, obschon sie weit über dreißig war, eine heilende Unschuld aus. Sie war eher klein und hatte das großäugige,
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