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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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obwohl Kekse, zu Ehren der Weihnachtssaison mit rotem und grünem Zucker bestreut, auf dem Tisch standen, zusammen mit einigen Miniatur-Obsttörtchen, die noch in ihren gefältelten Wachspapiermanschetten aus dem Delikatessenladen lagen. Franz drängte Ed ein Bier, ein importiertes Löwenbräu, auf, und für Andrea, die weder Alkohol trank noch rauchte noch Fleisch oder Fisch aß – «nichts, was ein Gesicht hat» war ihr Credo –, fand er hinten im Kühlschrank eine Coke. Sie trank auch keine alkoholfreien, koffeinhaltigen Getränke, wusste Ed, aber mit einer Fügsamkeit, die ihm fast das Herz brach, nahm sie das verzweifelte Angebot ihres Gastgebers an. Franz war korpulent, aber energiegeladen, mit wenigen, glatt zurückgekämmten, am Schädel klebenden blonden Haaren; auf seiner Kopfhaut standenSchweißperlen, und sein Hemd war feucht, wie in stummem Kommentar zur überhitzten Stickigkeit dieses gemieteten Apartments.
    In Gegenwart ihres Mannes schien eine unsichtbare Last von Frau Mueller abzufallen. Sie wurde passiv und träumerisch und nippte an einem bernsteinfarbenen Getränk, das Franz schnell wieder auffüllte, wenn die Eiswürfel sich auf dem Boden des Glases niederließen. Es schien ihr zu gefallen, dass die Unterhaltung sich um Franz drehte. Er war Photograph – Hochzeiten, Schulabschlussfeiern, Bar- und Bat-Mizwas. «Für die Orientalen besonders», erklärte Franz, «ist der Photograph wichtiger als der Geistliche. Er
iss
der Geistliche, praktisch gesehen. Er iss der Gott, der sagt: ‹Es werde Licht›, und dies flüchtige Ereignis wird festgehalten für –
Was heißt ‹ewig›, Liebchen? »
    «Eternal», steuerte Frau Mueller lächelnd aus ihrem gedankenverwehten Zustand bei.
    Das Wohnzimmer hatte die Form eines Souterrainraums: Stufen führten zu einem oberen Stock hinauf, und die dreieckige Nische unter den Stufen war mit aufgestapelten Magazinen gefüllt. Ed, der den Sessel genommen hatte, der den Stufen am nächsten stand, sah nach und nach, dass die meisten der aufbewahrten Magazine
Playboys
und
Penthouses
und
Hustlers
waren. Nach dem zweiten Löwenbräu fühlte er sich berechtigt, eine Bemerkung zu diesem ungewöhnlichen häuslichen Archiv zu machen. Sein eifriger Gastgeber sprang auf, gab ihm ein paar Hefte in die Hand und drängte ihn, sie durchzublättern. Die glänzenden Seiten erinnerten Ed an den Katalog eines Rosenzüchters, so viele lebhafte Schattierungen von Rosa und Rot mit dem gelegentlichen Violett und Mauve einer schwarzhäutigen Frau. Franz erklärte: «Siebenutzen Spiegel, um das Licht zu bündeln auf» – er zögerte und sah zu Andrea hin – «genau
diesen
Punkt.»
    Auch Ed sah zu Andrea hin und war bestürzt über die engelsgleiche Schönheit ihres Gesichts, das ausdruckslos irgendwohin schaute in heiterer Unwissenheit, dass die Männer über Spiegel redeten, die Vaginen ins rechte Licht rückten. Sie war schön wie mit dem Silberstift gezeichnet, reine Kontur, transparent bis zum Glanz unter den Dingen: vielleicht schuf der jähe Kontrast zu den schmutzigen Mädchen in
Penthouse
, ihren gespreizten Beinen und forcierten lüsternen Blicken, diesen Eindruck. Sie war so gut, so enthaltsam – Ed sah resigniert, dass sie nie die Seine sein könnte. Dieses Aufblitzen von Wahrheit hielt an, als die meisten Einzelheiten der leicht verrückten Teeparty verblasst waren.
    Die Muellers wollten, schien es, über sich reden. Von den beiden war der Mann der geborene Lehrer, jemand, der andere an seinem Wissen teilhaben ließ, es unter die Leute brachte. Franz war als junger Mann in der Wehrmacht gewesen und hatte sich lieb Kind gemacht bei den beiden großen Armeen, die seine eigene geschlagen hatten. Als Kriegsgefangener in der Sowjetunion hatte er genug Russisch gelernt, um sich nützlich zu machen und bevorzugt behandelt zu werden in einer harschen Umgebung. Dann in die Westzone entlassen, hatte er die amerikanische Version des Englischen gelernt. Er hatte verschiedene Fähigkeiten erworben, Photographieren war nur eine davon. An Wochentagen arbeitete er im MIT als Labortechniker. Hedwig und er waren, bereits durch Ehe vereinigt, vor fast zehn Jahren in die Vereinigten Staaten gekommen.
    Falls sie je geschildert haben sollten, wie sie sich kennengelernt hatten oder welcher Traum sie in die VereinigtenStaaten geführt hatte, Ed, beschwipst vom Löwenbräu, ließ es durch die Maschen seines Hirns rutschen.
    Als das dritte Glas mit dem teefarbenen Drink vor ihr immer leerer wurde,

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