Die Träume der Libussa (German Edition)
Mutter. Was ist geschehen, dass du nachts mit mir hierher kommst?“
Sein eindringlicher Blick machte es ihr unmöglich, der Frage auszuweichen.
„Die Götter
bestimmen auch unser Schicksal. Manchmal scheint es hart. Deine Aufgabe ist es,
unsere Leute, die weit von hier in Gefangenschaft sind, zu befreien, indem du
ein Opfer bringst.“
„Was für ein
Opfer?“, kam es ohne Zögern.
„Du wirst in
die Fremde gehen müssen. Für lange Zeit. Man wird dich nicht schlecht
behandeln, aber von dir erwarten, dass du unseren Glauben und unsere Sitten
vergisst. Du musst stark sein und dem widerstehen.“
Sie staunte
über die gefasste Haltung des Jungen. Sein niedergeschlagener, aber völlig
ruhiger Blick zwang sie, ebenfalls Fassung zu wahren.
„Wann soll ich
gehen?“
„Bald schon.“
Sie glaubte, an ihren unterdrückten Tränen zu ersticken und tat mühsam ein paar
Atemzüge.
„Sehr bald.
Morgen.“
Lidomir wich
zurück. Er musterte die Festung mit ihren Mauern, den Schrein und die Hütten
der Handwerker, als beginne er bereits, Abschied zu nehmen.
„Kannst du mir
sagen, wann ich wiederkomme?“
Sie zwang sich,
den Kopf zu schütteln, auch wenn eine Lüge vieles leichter gemacht hätte.
„Aber du wirst
wiederkommen. Das weiß ich. Ich bin Seherin. Du kommst wieder und alles wird
gut.“
Es gelang ihr,
selbst daran zu glauben, und einen Augenblick lang verspürte sie Erleichterung.
„Was geschieht
bis morgen, Mutter? Kann ich von Kveta und Scharka Abschied nehmen?“
Sie nickte.
„Aber dann sollst du zu Bohumil, dem ältesten Schamanen gehen. Er wird dich
jetzt schon zum Krieger weihen und tätowieren, damit du niemals vergisst, woher
du kommst.“
Lidomir
musterte sie staunend. „Aber wie sollte ich das jemals vergessen?“
Sie strich ihm
über den Kopf. Hatte sie so lange auf die Geburt ihres ersten Kindes gewartet,
nur um bald von ihm getrennt zu werden?
„Sei nicht
traurig, Mutter", meinte der Junge sanft. „Du hast selbst gesagt, dass die
Götter unser Schicksal bestimmen.“
Er begreift
nicht wirklich, was ihm bevorsteht, dachte sie betrübt. Aber die Ruhe des
Jungen beschämte sie. Es war, als wolle die große Göttin ihr ein Zeichen geben,
wie man ihrem Willen begegnen sollte.
Zum ersten Mal
in ihrem Leben glaubte Libussa, die Götter ihres Volkes zu hassen.
Die Rückkehr der Gefangenen wurde
gefeiert. Krok, der abgemagert und erschöpft wirkte, nahm seinen Platz an der
großen Tafel ein. „Wir alle sollten an die Gefallenen denken. Die tapferen
Männer unseres Volkes, die mit uns in die Schlacht zogen und dort ihr Leben
ließen“, begann er. Seine Stimme klang müde, aber er zwang sich, fortzufahren.
„Viele der Bauern starben, deren Namen ich nicht alle kenne, doch ich bin mir
sicher, dass sie im Totenreich mit Ehren empfangen werden. Außerdem sollten wir
Vojtan von den Lemuzi nicht vergessen. Er opferte sein Leben, um sich gegen die
Grausamkeit eines Tyrannen aufzulehnen.“
Sylva
von den Kroaten, Vojtans Gefährtin, brach in lautes Schluchzen aus. Ihre Mutter
senkte nur den Kopf und Slavonik, ebenfalls angeschlagen nach der
Gefangenschaft, unterdrückte ein Grinsen.
„Er hat
einfach die Nerven verloren während der Hinrichtungen“, flüsterte Premysl
Libussa ins Ohr. „Doch auf diese Weise gelang es dem ängstlichen Vojtan, ein
Held zu werden. Er hat diese Anerkennung wohl verdient.“
Sie drückte
unter dem Tisch Premysls Hand. Die Freude, ihn an ihrer Seite zu wissen und
berühren zu können, linderte ihren Schmerz. Sie nahm sich vor, ihn nicht weiter
mit Vorwürfen zu überschütten, auch wenn es ihr manchmal schwer fallen würde.
Er litt genug an Lidomirs Schicksal, ebenso wie Krok, der aus Schuldgefühlen
ihre Gegenwart mied.
Der Abend zog
an ihr vorüber. Sie war froh, Thetka wieder an ihrer Seite zu sehen. Vlasta
schien durch die Ereignisse gealtert zu sein. Ein harter Zug hatte sich um
ihren Mund gelegt, und sie verhielt sich ruhiger als früher, als sei die durch
jahrelange Kampfübungen gestählte Kraft ihr zu wichtig geworden, um sie an
irgendwelche Albernheiten zu verschwenden. Mnatas Blick blieb niedergeschlagen.
Libussa hatte ihm versichert, dass sie ihn nicht weniger vermissen würde als
Lidomir, aber sie zweifelte, ob er ihren Worten Glauben schenkte. Sie waren trotzdem
ehrlich gemeint. Der Anblick seines schwarzen Igelhaars hatte ihren Schmerz
wirksamer gelindert als Kazis beruhigende Tränke aus Fenchel.
Plötzlich
fühlte ein Ziehen an
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