Die Träume der Libussa (German Edition)
Erst wenn dein Sohn in der Gewalt der
Franken ist, lässt er alle Gefangenen ziehen.“
Kälte fraß sich
bis in Libussas Knochen. „Wir schicken einfach ein anderes Kind. Sie werden es
nicht merken", flüsterte sie, doch sobald die Worte ausgesprochen waren,
wurde ihr klar, dass sie keinen Sinn ergaben. Sie konnte keiner anderen Familie
den Sohn rauben.
„Das kannst du
nicht tun. Es gibt keinen anderen Weg, als ihnen Lidomir zu geben. Es tut mir
Leid, Libussa. Ich hätte mich damals auf deine Seite stellen und gegen eine
Unterstützung der Sachsen stimmen sollen, denn du hast das Unheil
vorausgesehen. Die Bauern zogen freiwillig mit. Hätten sie sich geweigert, wäre
es schwer für Krok gewesen, schnell genug Kämpfer zu finden. Aber ich ließ mich
von seinen Worten in den Bann schlagen. Sein Ziel erschien mir richtig.
Wahrscheinlich war es das auch, aber uns fehlten alle Möglichkeiten zu einem
Sieg.“
Libussa
schüttelte widerwillig den Kopf. „Wir können Lidomir nicht so einfach in die
Fremde schicken. Er ist ein sehr verletzliches Kind. Wie soll er die Trennung
von seiner Familie ertragen? Vielleicht ist das alles auch nur eine Täuschung.
Der Frankenkönig tötet ihn und dann auch alle anderen Gefangenen.“
„Das wird er
nicht tun, Libussa. Ich habe ihn gesehen, diesen Frankenkönig. Er ist ein
kluger Mann und schien mir nicht einmal grausam. Die Hinrichtungen gefielen ihm
nicht. Er trägt einfache Kleidung wie ein Bauer, obwohl er mittlerweile mehr
Macht haben muss als der Khagan der Awaren. Seine Stimme ist sanft, doch er hat
einen stählernen Willen. Seinen Glauben überall zu verbreiten, scheint sein
höchstes Ziel zu sein. Und um sich dem entgegenzustellen, wie Krok es wollte,
mangelt es den heidnischen Völkern an Zusammenhalt. Sonst hätten die Aborditen
nicht mit den Franken gekämpft. Doch der Frankenkönig scheint mir kein Mann,
der sich nicht an Abmachungen hält.“
Libussa nickte.
Diese Beschreibung traf auf den Mann zu, der ihr immer wieder erschienen war,
wenn über die Franken gesprochen wurde. Sie hatte nicht mit Sicherheit gewusst,
dass er der König war. Vielleicht hatte er sie in diesen Träumen warnen wollen,
ihn nicht herauszufordern. Doch darauf kam es jetzt nicht an.
„Was wird aus
Lidomir als Geisel werden?“, fragte sie fassungslos. Premysls Umarmung wurde
stärker. Er klammerte sich an sie wie ein Ertrinkender an ein Stück Treibholz.
„Sie werden ihn
in ihrem christlichen Glauben erziehen. Der Frankenkönig hat schon bei den
Sachsen Geiseln genommen. Sie leben alle noch, mach dir keine Sorgen. Wenn er
erwachsen ist, kann er vielleicht zurückkommen.“
„Als Christ“,
sagte Libussa. „Er soll als Christ zurückkommen. Als Anhänger des
Frankenkönigs. Deshalb nimmt dieser Mann Kinder als Geiseln.“
„Was macht das
schon? Wenigstens kommt er wieder. Vielleicht ist der Siegeszug des
Christengottes nicht aufzuhalten.“
Libussa löste
sich wütend aus seiner Umarmung. „Aus meinem Sohn wird kein Christ werden.
Niemals", murmelte sie mit zusammengepressten Zähnen. „Ich werde zum
Schrein der Göttin mit ihm gehen und ihn einen Eid schwören lassen, dem er treu
bleiben wird. Er ist ein kluger Junge, der bereits mehr begreift, als man ihm
zutraut.“
„Tue es, wenn
es dir hilft", erwiderte Premysl müde. „Aber zunächst musst du mit
Theoderich reden und ihm deine Entscheidung mitteilen. Vielleicht kannst du ihn
dazu bringen, eine Weile zu warten, so dass wir Lidomir alles in Ruhe erklären
können.“
Libussa
unterdrückte ihr Verlangen, schreiend um sich zu schlagen.
„Ich werde es
ihm erklären. Nur ich. Es sind die Folgen eurer Blindheit, unter denen er zu
leiden hat.“
Premysls
trauriger, schuldbewusster Blick beschämte sie, aber sie war nicht willens,
ihre Worte zurückzunehmen.
Libussa saß mit Lidomir am
Schrein. Im Licht der Fackel schien die Statue Moranas finster und
gespenstisch. Libussa strich mit der Hand über das warme Holz.
„Dies ist
unsere Göttin, Tochter der Mokosch und Peruns. Jedes Jahr vermählt sie sich mit
Jarilo, der aus der Unterwelt, dem Reich seines Vaters Veles kommt. Durch ihre
Vereinigung kann das Land neu erblühen. All diese Götter bestimmen seit
Ewigkeiten das Schicksal unseres Volkes. Unter ihrer Herrschaft bleiben unsere Sitten
gewahrt. Als zukünftiger Stammesführer musst du schwören, sie bis an dein
Lebensende zu achten.“
Lidomir nickte.
Seine Augen waren groß und ernst.
„Das weiß ich
bereits,
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