Die Träume der Libussa (German Edition)
ihrem Ärmel und wandte sich um. Scharka, die von Kveta
bereits schlafen gelegt worden war, stand auf einmal an ihrer Seite. „Mutter,
wo ist Lidomir? Er sagte, dass er auf eine Reise geht, doch ich will wissen,
wann er wiederkommt. Mnata ist hier. Aber wann kommt Lidomir zurück?“
Libussa musste
ihren Ärger mühsam verbergen. Warum konnte ihre Tochter nicht einen Funken von
Lidomirs Tapferkeit zeigen? Lag es allein daran, dass sie noch jünger war? Sie
erinnerte sich, wie ihre eigene Mutter ihr immer wieder Wehleidigkeit
vorgeworfen hatte, und zwang sich, Scharka freundlich zu behandeln.
„Er wird länger
fortbleiben als Mnata. Wir müssen lernen, ohne ihn auszukommen, bis er wieder
zurückkehrt. Er will sicher nicht, dass wir seinetwegen die ganze Zeit traurig
sind.“
Scharka begann
laut zu weinen. „Ich will, dass er zurückkommt. Sofort. Warum wollte er denn
weg?“
Libussa fuhr
zusammen. Im Grunde ihres Herzens wünschte sie, ebenfalls hemmungslos
schluchzen zu dürfen, doch ihre Rolle als Fürstin verbot so ein schwächliches
Verhalten. Sie sah erleichtert, wie Mnata die kleine Scharka in die Arme schoss
und beruhigend auf sie einredete.
Kazi
beobachtete das Geschehen mit ihrer üblich geistesabwesenden Miene, hinter der
sie ihre Aufmerksamkeit verbarg. Libussa erinnerte sich mit Unwillen an ihre
einzigen Worte zu der Geiselnahme. „Du könntest ihnen auch Vojen schicken. Mir
scheint er als Kuttenträger geeignet. Nun schau mich nicht so entsetzt an! Ich
meine es ernst, vielleicht wäre es das Beste für meinen Sohn, bei den Christen
aufzuwachsen.“ Sie hatte keine weitere Erklärung abgegeben und Libussa verlangte
es nicht danach, eine zu hören.
Als das Stechen
in ihrem Kopf zu stark wurde, ging sie hinaus, um im Hof frische Luft
einzuatmen. Stille und Einsamkeit schienen nur kurz befreiend, denn auf einmal
spürte sie sehr deutlich die Leere in ihrem Inneren. Lidomir hatte eine Leere
hinterlassen, doch die war kleiner als noch vor ein paar Wochen, als sie
geglaubt hatte, so viele geliebte Menschen auf einmal verloren zu haben. Lernte
man mit der Zeit, Unglück zu ertragen und bescheidener in seinen Erwartungen zu
werden?
„Libussa.“
Eine Gestalt
stand hinter ihr im Dunkeln. „Ich wollte dir sagen, wie leid es mir tut. Wir
hätten auf dich hören sollen.“
„Daran ist
nichts mehr zu ändern, Onkel", antwortete sie der vertrauten Stimme.
Zu ihrem
Staunen legte Krok ihr seine Hand auf den Arm.
„Ich führe die
Verhandlungen mit anderen Völkern. Ich schwöre dir, ich werde alles tun, um
deinen Sohn wieder zu uns zu bringen. Alles, was in meiner Macht steht.“
2. Teil
1
„Ich sehe einen Mann in deinem
Leben.“
Hiltrud hatte
sich über den Kessel gebeugt. Der Dampf färbte ihr fahles Gesicht rot, und
Radegund fand, dass die Alte dadurch noch hässlicher wurde. Konnte sie
überhaupt noch etwas sehen? Ihr linkes Auge war schon vor Jahren starr
geworden, und man musste sehr nahe an sie herantreten, um erkannt zu werden.
Darauf, dass
sie mir einen Mann verspricht, hätte ich wetten können. Jetzt erzählt sie mir
sicher gleich, dass er jung und gutaussehend ist, dachte Radegund. Ihr tat es
bereits Leid um die Münze, die sie Hildtrud versprochen hatte. Das kam davon,
wenn man sich von den anderen Mädchen herausfordern ließ. Neuerdings galt es
als anstößig, eine Wahrsagerin aufzusuchen. Radegunds Freundin Brunchild hatte
erzählt, dass der ansässige Schmied seine Tochter windelweich geprügelt hatte,
als er von ihrem Besuch bei Hiltrud erfuhr. Heidnische Zauberei geriet
zunehmend in Verruf, seitdem Bayern zum Frankenreich gehörte, und niemand
verlangte es nach einer Strafpredigt vom Pfarrer oder gar vom Bischof
persönlich. Dabei hatte Hiltrud früher nicht schlecht gelebt. Viele Leute waren
zu ihr gekommen, und es gab Gerüchte, dass der abgesetzte Herzog Tassilo in
seiner Jugend eine Schwäche für sie gehabt hatte. Aber das musste lange her
sein, denn mittlerweile war die Wahrsagerin alt, halb blind und bettelarm. Kein
Wunder, dass sie sich um Radegund so bemühte, die nun ihr letztes Geld
verschwendet hatte, um schöne Lügen zu hören. Nur weil sie nicht als feige
gelten wollte. Statt diesem Unsinn hätte sie sich beim Straßenhändler besser eine
Spange für ihr Haar holen sollen.
„Er ist ein
hübscher Kerl, ungefähr in deinem Alter", bestätigte Hiltrud diese
Überlegungen. „Du wirst ihm ans Herz wachsen. Die erste und einzige Frau seines
Lebens sollst
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