Die Träume der Libussa (German Edition)
mit roten Bändern geschmückt, die im
ersten Herbstwind flatterten. Auch die hölzernen Figuren waren mit frischer,
leuchtender Farbe bemalt worden. In der Menge erkannte Radegund die große,
rothaarige Lukaner-Fürstin mit ihrem Bruder Lecho, Jana von den Zlicany, die
noch runder geworden war, sowie Libussas nahe Verwandtschaft, Thetka und Kazi
mit ihren Kindern. Vlastas Augen stachen rot und verquollen in ihrem
kreidebleichen Gesicht hervor. Wie eine schwache Frau lehnte sich die stolze
Kriegerin an Tschastawas grazile Gestalt. Der Tod ihres Lehrmeisters schien sie
tiefer getroffen zu haben, als alle Waffen es bisher vermocht hatten. Auch
Mnata sah aus wie ein schwer verwundeter Hunne. Eine ebenfalls blasse Scharka
wich nicht von seiner Seite und sprach sanft mit ihm, als sei sie mit einem Mal
die Stärkere. Unter den Schamanen, die am Schrein vorbeizogen, erblickte
Radegund Vojen in der bunten Aufmachung seines Standes. Die Farbe, mit der sein
Gesicht bemalt war, verbarg alle Empfindungen, doch sie ahnte, dass er nicht
mehr unter dem Tod des Stammesführers litt als sie selbst. Sie wusste, wie es
war, wenn man sich nicht zugehörig fühlte.
Slavonik war
ebenfalls anwesend, dicht neben seiner Schwester Sylva, die ihm glich, ohne
über seine Ausstrahlung zu verfügen. Er bemühte sich nicht, Trauer
vorzutäuschen, die er nicht empfand. Nichts als Hohn erkannte Radegund in den
scharfen Umrissen seines Raubvogelgesichts, dessen Anblick ihr unangenehm war.
Gesang füllte die
Herbstluft – Lieder, die den Verstorbenen ins Totenreich begleiten sollten, wo
bereits seine Ahnen auf ihn warteten. Radegund hörte immer wieder den Namen
Samos, der in der Geschichte dieses Volkes eine wichtige Rolle gespielt hatte.
Ansonsten schwirrten ihr eine Vielzahl unverständlicher Worte um die Ohren. Sie
vermochte dem Inhalt der Lieder nicht wirklich zu folgen, aber Scharka hatte
ihr erklärt, dass der Tod kein trauriges Ereignis sei, denn er bringe einen
Menschen wieder mit seinen Vorfahren zusammen. Das Sterben gehöre zum Leben
ebenso wie die Geburt. Ein endloser Kreislauf.
Mitten während
der Gesänge trat die Fürstin Libussa vor. Sie trug ein besticktes Festgewand,
und ihr Haar war zu einer Krone aus Zöpfen geflochten. Trotz ihres Alters
stellte diese zarte, würdevolle Erscheinung alle anwesenden Frauen in den
Schatten. In ihrer rechten Hand hielt sie die runde Tonscheibe, auf der ein
heidnisches Kreuz eingeritzt war. Seine breiten Formen glichen nicht den
vertrauten Umrissen des Kruzifixes. Lidomirs Mutter hielt die Scheibe der Sonne
entgegen und sprach Worte des Abschieds. Dann ergriff sie eine brennende
Fackel, die Vojen ihr reichte, und setzte das Holzgerüst in Brand.
Die Flammen
fraßen sich rasch in die Balken, und bald brannte Kroks mit Schmuck und Waffen
verzierter Leichnam lichterloh. Rauchschwaden stiegen steil in den Himmel auf,
wurden aber auch vom Wind in Radegunds Richtung geblasen, so dass sie ihr
Gesicht abwenden musste.
Dann hörte sie
den Schrei. Fürstin Libussa war in die Knie gesunken und presste beide Hände
auf ihren Bauch. Mit schmerzverzerrtem Gesicht wand sie sich auf dem Erdboden.
Die Anwesenden starrten fassungslos auf das unerwartete Schauspiel, als
fürchteten sie, ihre Götter seien plötzlich am Werk gewesen. Premysl lief als
Erster zu seiner Gefährtin, schloss sie in die Arme und flüsterte ihr etwas ins
Ohr. Langsam gelang es ihm, sie wieder aufzurichten. Indessen war Kazi
dazugekommen, und auch Thekla, Mnata, Scharka und Lidomir drängten sich an
Libussas Seite, um sie zu stützen. Radegund fiel plötzlich ein, dass sie ihrem
Ehemann hätte folgen sollen, doch Libussa stand mittlerweile wieder fest auf den
Beinen. Beruhigend redete sie auf ihre Familie ein. Es gelang ihr, durch das
Fortsetzen von Gebetssprüchen die allgemeine Aufmerksamkeit wieder auf das
Feuer zu lenken. Trotzdem blieb die Stimmung düster, und der Zauber der
Zeremonie war zerstört. Erschrockene, besorgte Augenpaare richteten sich immer
wieder auf die schmale Gestalt der Fürstin. Sie musste ihrem Volk viel
bedeuten, um derartige Beunruhigung auszulösen. Nur Slavonik wirkte gefasst
wenn auch überrascht. Radegund sah, wie er einem ihr unbekannten Mann an seiner
Seite etwas ins Ohr flüsterte. Obwohl sie nicht wusste, woher die Ahnung kam,
vermutete sie in dem blonden Fremden Neklan von den Lemuzi. Schließlich
entdeckte sie dicht daneben die beiden Mönche. Frederik war von der allgemeinen
Unruhe offensichtlich
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