Die Träume der Libussa (German Edition)
tot im Hof. Nicht einmal Kazi fand eine Erklärung, als sie den
kleinen Körper untersuchte. Libussa war erstaunt gewesen, wie wenig Trauer sie
angesichts des Tierleichnams empfand. Dieses leblose Etwas war nicht mehr ihr
Kätzchen. Auch ihre Mutter wirkte fremd in ihrer Totenblässe. Libussa senkte
schnell wieder den Blick, um sie nicht als wächserne Statue in Erinnerung zu
behalten. Es konnte nicht sein, dass jene Frau, die noch vor einigen Tagen
ungeduldig auf ihrem Schemel gesessen und energisch mit ihrer uneinsichtigen
jüngsten Tochter gesprochen hatte, einfach aus der Welt verschwunden war!
Libussa spürte tiefe Sehnsucht in sich, aber das war kein neues Gefühl. Ihr
Leben lang hatte sie die Liebe ihrer Mutter vermisst, doch nun war jede weitere
Hoffnung darauf vergeblich. Libussa wusste, dass nur Thetka der
Tschechen-Fürstin wirklich nahe gewesen war. Sie selbst hatte sich stets
unwürdig, unvollkommen gefühlt, da es ihr nicht gelang, den Ansprüchen ihrer Mutter
zu genügen. Zuneigung und Wärme waren von Kveta gekommen, Umarmungen, Trost und
das tägliche Essen. Der Tod ihrer Mutter erschütterte sie, ließ aber nur ein
Gefühl der Leere zurück.
Dann erwachte
ihr Pflichtgefühl. Sie wusste, was ihre Aufgabe bei der Totenwache war. Mit
Gedanken an ihre gemeinsame Zeit auf Erden sollte sie ihrer Mutter den Weg ins
Totenreich zu Veles, dem Gott der Unterwelt, erleichtern und sie mit der
Aussicht auf ein späteres Wiedersehen trösten. Dies, so sagte man, mache den
Abschied auch für die Lebenden leichter. Später, wenn die ganze Verwandtschaft
versammelt war, würde der Klagegesang beginnen, und am nächsten Tage würde man
den Leichnam in Gegenwart der Fürstenclans aller Stämme verbrennen.
Libussa
erinnerte sich an eine große, stattliche Frau. Narben an ihren Armen zeugten
davon, dass sie bewaffnete Zweikämpfe nicht ,scheute und einige Male war sie
gemeinsam mit den Kriegern losgeritten, um feindliche Angriffe abzuwehren. „Als
ich ein junges Mädchen war und die Rolle meiner Mutter einnehmen sollte“, hörte
Libussa im Geiste die energische Stimme der Verstorbenen, „da dachten einige
unserer Männer, es sei an der Zeit, aus ihrer Fürstin nur noch eine Hohe
Priesterin zu machen, als netten Anblick bei rituellen Festen. Regieren und Kämpfen,
das trauten sie einer Frau nicht zu. Ich habe es ihnen gezeigt, Kind. Sie
mussten lernen, mich ernst zu nehmen.“ Der Kampf um Anerkennung hatte sie hart
gemacht, laut und aufbrausend, wenn etwas nicht nach ihren Vorstellungen lief.
„Aber Mutter,
eine Hohe Priesterin ist mehr als nur ein schöner Anblick. Sie öffnet das Tor
zur Welt der Geister und Götter. Auf diese Weise kann sie für das Wohl ihres
Volkes sorgen, ohne kämpfen und töten zu müssen.“
Stirnrunzeln
und ein verständnisloser Blick waren die einzige Reaktion gewesen. Libussa und
ihre Mutter redeten aneinander vorbei, als stammten sie aus verschiedenen
Völkern. Trotz ihrer regelmäßigen Auftritte bei den Opferstätten konnte die
Fürstin Scharka sich für den Dienst an den Göttern kaum begeistern. Ihr Blick
galt allein dieser Welt.
„Eines sollst
du wissen, Kind, diese Geschichte über den großen Samo, der unsere Leute vom
Joch der Awaren befreite, war nicht so, wie manche Männer sie gern erzählen.
Samo war Franke und kam als Händler zu uns. Er sah, wie die schrägäugigen
Dämonen uns versklavten, obwohl wir bereits vor ihnen geflohen waren. Sie
verfolgten uns weiter. Da meinte er, die Zeit sei reif für einen Aufstand. Es
gelang ihm, die verschiedenen Stämme zu vereinigen, das ist richtig. Vor allem die
Fürstinnen unterstützten ihn darin, denn sie erkannten, dass die Götter diesen
Fremden geschickt hatten, um uns zu retten. Daher vollzogen sie die heilige
Hochzeit mit ihm, so dass sein Blut sich mit dem unseren vermischen konnte. So
gewann er das Vertrauen unserer Krieger. Wir stammen selbst von einer Tochter
Samos ab, heißt es, und deshalb konnte der Stamm der Tschechen der mächtigste
werden. Jetzt soll irgendein fränkischer Schreiber verbreitet haben, der große
Samo hätte zwölf unserer Frauen geheiratet und eine Menge Söhne gezeugt! Das
klingt, als hätte er sich eine Viehherde zugelegt. Es ist wirklich eine
gefährliche Sache, diese seltsame Schreiberei. Einige Männer kratzen Worte
nieder, und auf einmal haben diese eine größere Bedeutung als alles, was man
sich seit Jahrhunderten erzählt. Vergiss niemals, wie es wirklich war!“
Libussa nickte
und
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