Die Träume der Libussa (German Edition)
Ihr
war, als hätte ein starkes Fieber sie befallen, so dass sie von Alpträumen
geplagt wurde. Abends brachte Kazi ihr unaufgefordert einen Becher Wermutwein.
„Das wirst du brauchen, um zu schlafen, Schwester“, meinte sie mit ihrer
üblichen gleichmütigen Miene.
Libussa nahm
dankbar an. „Kazi“, begann sie dann, denn der Drang, sich in ihrer Verlorenheit
jemandem mitzuteilen, wurde übermächtig. Warum hat sie mir das angetan?“
„Du meinst die
Priesterin der Kelten?“
Libussa nickte.
„Sie kannte mich. Sie wusste, dass es mein Wunsch war, bei ihr leben zu können.
Ich sollte von ihr als Seherin ausgebildet werden.“
„Eben weil sie
dich kannte, hat sie so entschieden“, erklärte Kazi ohne zu zögern. „Einer
Priesterin ist der Wunsch eines einzelnen Menschen weniger wichtig als der
Wille der Götter. Ehrlich gesagt, ich bin erleichtert, nicht Thetka an deiner
Stelle zu sehen. Sie ist jetzt schon schwer zu ertragen“, fügte sie lächelnd
hinzu, um Libussa aufzuheitern.
„Aber was ist
mit …?“ Libussa verstummte. Es schien ihr selbstsüchtig, die Schwester beim Tod
ihrer Mutter mit solchen Belangen zu belästigen. Aber Kazi begriff.
„Mit deinem
Bauern, nicht wahr? Nun, er wird es erfahren. Vielleicht kommt er von selbst
hierher. Und falls er das nicht wagt, dann kannst du nach ihm schicken lassen.“
Libussa schloss
erschöpft die Augen. Sie wollte Kazi jetzt nicht von Olgas Drohung erzählen,
denn der Wein begann bereits zu wirken, und ihre Augen wurden schwer. Morgen
würde sie überlegen, ob sie jetzt mächtig genug war, um Olga nicht mehr
fürchten zu müssen. Einen Angriff gegen die Lemuzi-Fürstin konnte sie ohne
Kroks Zustimmung nicht beginnen, und diese würde sie wegen eines einzigen
Bauernjungen niemals bekommen. Und würde ein Mann, der keine Fürsten mochte,
überhaupt an der Seite der höchsten Fürstin seines Volkes leben wollen? Dankbar
für den Wermutwein flüchtete sie in das Dunkel des Schlafes.
In ihr Festgewand gehüllt und
kunstvoll frisiert lag Fürstin Scharka einige Tage später auf einem großen
Holzgerüst inmitten der versammelten Gäste. Die fürstlichen Clans aller Stämme
waren mit ihrem Gefolge gekommen. Im Hintergrund standen Knechte, Mägde und
Bauern aus dem Umland, die von ihrer Herrin Abschied nehmen wollten.
Schamanen mit
bunt bemalten Gesichtern traten vor, um Tänze aufzuführen und Gebete zu
sprechen. Sie waren die männliche Gefolgschaft der Hohen Priesterin, Söhne des
Volkes, die von ihr selbst ausgewählt wurden. Gewöhnlich lebten sie in ihren
Dörfern, doch zu gegebenem Anlass wurden sie gerufen, um an religiösen
Zeremonien teilzunehmen. Allen voran schritt der Älteste unter ihnen, Bohumil,
der ein enger Vertrauter von Libussas Mutter gewesen war. Er begann den Sprechgesang,
in dem Veles, der Gott der Unterwelt, aufgefordert wurde, die Seele der
Verstorbenen in Ehren zu empfangen, wie es ihrem Rang gebührte. Die anderen
Schamanen stimmten allmählich ein, und Libussa spürte wieder ein starkes Pochen
an ihren Schläfen. Bei Kroks endlosen Reden über ihre neue Rolle, die
Traditionen der Behaimen und die heiligen Pflichten, die eine Hohe Priesterin
zu erfüllen hatte, war es ihr manchmal schwer gefallen, sich wach zu halten.
Sie musste lange Gebetssprüche auswendig lernen und wissen, wann und wie sie
sich an den Gesängen der Schamanen zu beteiligen hatte. Danach folgte die
Geschichte der Heldentaten Samos im Kampf gegen die Awaren. Sie sollte auch die
Namen all ihrer Vorgängerinnen aufzählen können. Manchmal ahnte Libussa, wie
hilfreich diese geheimnisvolle Kunst des Schreibens sein musste, denn sie
entlastete das menschliche Gedächtnis. Oft plagten Kopfschmerzen sie derart,
dass ihr schwarz vor Augen wurde. Nachts band sie sich ein feuchtes, mit
Kräutern belegtes Tuch um den Kopf, das Kazi ihr brachte. Die Wunde an ihrem
rechten Bein war immer noch nicht verheilt. Kazi hatte ihr eine Salbe aus
Johanniskraut gegeben und zur Ruhe geraten, doch angesichts der Umstände hatte
sie wenig Gelegenheit dazu gehabt.
Als die Schamanen geendet hatten,
ging Libussa auf das Gerüst zu. Den ganzen Vormittag hatte es gedauert, sie für
diese Feier herzurichten. Ihr Haar war zu einer Krone aus Zöpfen geflochten und
so stramm gezogen, dass die Kopfschmerzen sich dadurch noch verstärkten. Schwere
Silberohrringe klirrten bei jedem ihrer Schritte und sie spürte das Gewicht der
Ketten an ihrem Hals. Als sie vor dem Holzgerüst stand, hob
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