Die Träume der Libussa (German Edition)
schicken.“
Thetka erhob
sich zu ihrer vollen Größe.
„Das ist nicht
nötig! Ich werde gehen“, sprach sie ihre ersten Worte seit Wochen.
„Das ist keine
Aufgabe für eine Frau!“, erklärte Slavonik entschieden.
„Ach,
tatsächlich? Glaubst du, dass Tyrs Krieger an dir mehr Gefallen finden werden?“
Das laute
Lachen im Saal trieb eine freudige Röte auf ihre Wangen. Thetka gelang es mit
Leichtigkeit, eine Menschenmenge für sich zu gewinnen.
„Dann lass mich
mit dir gehen“, rief Libussa. Sie gab sich alle Mühe, ihren Blick all das sagen
zu lassen, was sie dachte: Bitte schließe Frieden mit mir, Schwester.
Thetka musterte
sie skeptisch. „Du bist Fürstin und Hohe Priesterin. Du darfst dich einer
solchen Gefahr nicht aussetzen", meinte sie nur.
Libussa spürte,
wie Premysls Finger kurz ihr Handgelenk streiften.
„Deine
Schwester hat Recht. Für Tyr wärest du ein gefundenes Fressen. Eine noch
bessere Partie als Ludmilla.“
„Vielleicht
sollten wir alle erst einmal schlafen", wiederholte der übermüdete
Lecho. Libussa hob noch einmal den Stab der Fürstin.
„Wenn meine
Schwester als unsere Gesandte zu Tyr gehen will, so stimme ich dem zu. Morgen
besprechen wir die Einzelheiten. Die Versammlung ist nun beendet. Ich danke
euch für euer Kommen.“
Sie wandte sich
zum Gehen und überlegte, welches Pferd sie Premysl geben sollte. Als sie
Neklans Blick wie ein Schwert in ihrem Rücken fühlte, wandte sie sich kurz um
und erschrak vor dem Hass, der in seinen Augen brannte.
3
Drei Wochen waren seit Thetkas
Aufbruch nach Zabrusany vergangen. Inzwischen herrschte Morana als Todesgöttin
über das Land. Sie bedeckte es mit einem kalten, weißen Laken, unter dem jedes
Leben erfror. Eisiger Wind blies um die Mauern der Festung. Niemand verließ
mehr die Wärme der Feuerstellen, wenn es sich vermeiden ließ. Tageslicht war
selten und kostbar geworden, denn es drang nur spärlich durch die
Fensteröffnungen, die meist mit Tierfellen abgedeckt wurden, um die Kälte zu
lindern. Fackeln konnten das Licht der Sonnengöttin Mokosch nicht ersetzen. Des
Nachts, wenn Mokosch zur Gefährtin des Veles in der Unterwelt wurde, zur
feuchten Mutter Erde, bekam die Kälte tödliche Ausmaße. Die noch verbliebenen
Gäste trafen sich abends im großen Saal, wo Met und gewürzter Wein die
durchfrorenen Knochen wärmten. Klänge von Flöten und Schalmeien sorgten für
Ablenkung. Sänger erzählten von Geistern und Vilas, wie die Geschichte jener
Rusalka, die sich in einen Menschen verliebte und seinetwegen auf ihre
Unsterblichkeit verzichtete, nur um am Ende verlassen zu werden. Manchmal
sangen sie auch Lieder über die Taten des großen Samo, um die allgemeine
Schwermut zu vertreiben. Essen wurde reichlich aufgetischt, denn Körperfülle
war immer noch der beste Schutz gegen die todbringende Kälte.
Krok war noch
nicht aus dem Land der Polanen zurückgekehrt. Der heftige Schneefall musste ihn
aufgehalten haben. Radka hatte Chrasten gleich nach Thetkas Abreise verlassen,
denn sie musste ihre Aufgaben als Fürstin der Lukaner erfüllen. Lecho und seine
Krieger hielten sich noch in der Festung auf, was Libussa beruhigte. Weniger
erfreulich fand sie die Anwesenheit Slavoniks, der ebenfalls meinte, im
Ernstfall zur Stelle sein zu müssen. Er hatte sich mit den Zlicany-Kriegern
angefreundet und ihr lärmendes Zechen füllte jeden Abend den großen Saal.
Manchmal vertrieb er sich die Zeit auch durch Würfelspiele, wobei die
Lemuzi-Brüder ihm gern Gesellschaft leisteten. Libussa war aufgefallen, dass er
bei jeder Gelegenheit seine nackten Arme zur Schau stellte, auch wenn er
deshalb sicher fror. Sie sollte die Tätowierungen des Kriegers sehen, die sich
über seinen Muskeln spannten.
Ludmilla
besuchte niemals den großen Saal. Sogar ihren Brüdern ging sie aus dem Weg.
Kazi hatte ihre Wunden versorgt und anschließend gemeint, man solle sie
beschäftigen, um sie von ihren Erinnerungen abzulenken. Deshalb hatte Libussa
die Lemuzi-Tochter mit in die Webstube genommen und beobachtete, wie sich
Ludmilla in ihre Arbeit versenkte. Seit ihrer Ankunft in Chrasten hatte sie
kaum ein Wort gesprochen.
Ludmillas
Finger waren fast so dünn wie jene Fäden, die sie spann. An ihren bleichen
Händen waren die blauen Adern deutlich zu sehen. Sie arbeitete aufmerksam und
schweigend, die Augen starr auf die sich drehende Spindel gerichtet. Libussa
saß am Webstuhl und zog den letzten Faden durch das Gewebe. Der Umhang war
fertig,
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