Die Träume der Libussa (German Edition)
Vaters geerbt. Danach
war ein behaimischer Krieger zu ihr gekommen, und Thethka wurde geboren. Wer
Libussa gezeugt hatte, wusste Krok nicht genau. Es stand einem Mann der
Behaimen nicht zu, sich in die Belange seiner Schwestern und Nichten
einzumischen, wenn es um die Auswahl von Liebhabern ging. „Sie rennt diesem
Mann hinterher, obwohl die guten Sitten erfordern, dass er sich zu ihr begibt“,
erklärte er trotzdem empört.
„Warum bist du
so streng mit ihr? Libussa weiß genau, was sie tut, und wenn sie andere Wege
nimmt als die üblichen, so hat sie ihre Gründe dafür. Sie kommt zu mir, wenn
sie befürchtet, etwas Unangemessenes zu tun. Der Dienst an den Göttern ist ihr
sehr wichtig. Glaube mir, Krok, das Mädchen handelt nicht unüberlegt. Kannst du
mir sagen, warum du nicht bereit warst, sie in Erwägung zu ziehen?“
„Libussa folgt
in allem ihrem Herzen, auch wenn sie dabei gegen unsere Bräuche verstößt. Sie
ist gutgläubig und vertrauensselig. Streit ist ihr verhasst, denn sie versucht
stets, Verständnis für den Gegner aufzubringen und träumt von Frieden durch
beidseitige Einsicht. Versteh mich nicht falsch, hohe Frau. Das Mädchen ist ein
liebenswerter Mensch, und kaum jemand redet schlecht von ihr. Aber sie sieht
der Wirklichkeit nicht ins Gesicht.“ Er fand, dass er sich sehr treffend und
unvoreingenommen ausgedrückt hatte.
Die Priesterin
hielt ihren Blick auf die lodernden Flammen gerichtet. Ihm schien, als begännen
die Zeichen auf ihrer Stirn wieder zu tanzen. „Libussa ist, was du nicht bist.
Ihr Männer habt eure Götter des Krieges und des Donners und der Schlacht. Wir
Frauen verehren die Muttergöttin, die das Leben schenkt. Sie ist es, die aus
Libussa spricht, Krok. Weder Kazi noch Thethka hören ihre Stimme so klar wie
das jüngste Mädchen. Dir mag Libussa leicht zu beeindrucken und gutgläubig
vorkommen. Aber gib ihr Zeit, dann wird sie vom Leben lernen. Ich weiß, dass
keine andere deiner Nichten der großen Göttin so nahe steht wie das jüngste
Kind deiner Schwester. Mehr habe ich dir nicht zu sagen. Nun geh und tu, was
dir richtig erscheint.“
Krok suchte
nach Worten, um der weisen Frau zu widersprechen, doch die Priesterin beachtete
ihn nicht mehr. Ihre Augen waren geschlossen, und sie murmelte leise
unverständliche Worte. Er beobachtete, wie sich ihr Oberkörper dabei vor- und
zurückwiegte, als habe eine unsichtbare Macht von ihr Besitz ergriffen.
Er stieg wieder
auf sein Pferd und murmelte Worte des Abschieds, auf die er keine Antwort
erhielt. Dann galoppierte er eilig los. Der nächtliche Wald war die Wohnstatt
von Geistern und Dämonen, vor denen selbst ein tapferer Krieger Respekt hatte.
„Libussa“,
murmelte er auf dem Weg nach Chrasten, wo sein Clan sich niedergelassen hatte.
„Nun, wenn sie meint, dann eben Libussa. Es steht mir nicht an, die Wahl der
Göttin in Zweifel zu ziehen.“ Was er natürlich trotzdem tat.
Als der Reiter nicht mehr zu
sehen war, löschte die Keltin das Feuer. Die letzte Darbietung hatte ihren
Zweck erfüllt. Es tat ihr leid, dass sie Krok so unfreundlich verabschiedet
hatte, aber Männer hatten nicht das Recht, an diesen Ort zu kommen. Sie wollte
nicht, dass er bis zum Morgengrauen blieb und von den ersten Frauen gesehen
wurde, die sie aufsuchten.
Er ist kein
schlechter Kerl, der Stammesführer der Behaimen, dachte sie, als sie sich zum
Schlafen in ihre Höhle zurückzog. Ich glaube, er wird dem Willen der Göttin
folgen, auch wenn er ihn nicht versteht.
An Libussa
wollte sie im Augenblick nicht denken. Sollte das Mädchen je von diesem
Gespräch erfahren – wie zornig und enttäuscht wäre sie von ihrer engsten
Vertrauten, die nur zu gut wusste, welches Leben sie sich in Wahrheit wünschte!
„Jenen, die nicht nach Macht streben, soll sie zufallen“, murmelte die Keltin,
während sie sich auf ihre Felle legte und die warme Wolldecke über sich
ausbreitete. Hättest du mir nicht von deinen Träumen und Ahnungen erzählt,
Mädchen, dachte sie kurz vor dem Einschlafen, dann hätte ich ihn Thethka wählen
lassen, denn so übel ist sie nicht. Doch mir scheint, du hast eine besondere
Aufgabe in der Welt, Libussa. Du musst den Weg gehen, der dir bestimmt ist,
auch wenn er dir nicht gefällt. Den meisten von uns gefällt er nicht immer.
1
Libussa ließ ihre Stute über die
Lichtung galoppieren, und die hügelige, dicht bewaldete Landschaft zog an ihr
vorüber. Das Gefühl völliger Freiheit war wie ein Rausch, der sie in
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