Die träumende Welt 01 - Der Traumstein
wiederholte. Er war nicht ohne Kraft, dieser Klang, doch er hatte nichts vom Geheimnis und Zauber des singenden Sandes. Er war zu menschlich, zu erdverbunden, trotz all seiner Bemühungen, sich gen Himmel zu erheben.
Vor der Tür blieb Arden stehen.
»Was ist?« fragte Gemma leise und zeigte nach drinnen.
»Sie singen das Lob Gottes«, antwortete er. »Wir werden warten, bis sie fertig sind.«
»Ist hier jeder willkommen? Auch ... Ungläubige?«
»Sie richten nicht über andere«, erwiderte Arden und grinste. »Außerdem brennen sie einen außerordentlich guten Schnaps.«
Als der Gesang endete, klopfte Arden an die Tür. Sie wurde von einem Mann geöffnet, der mit einem langen Gewand im selben Grau wie die Abtei bekleidet war.
»Zimmer für die Nacht«, bat Arden. »Wenn es gestattet ist.«
Der Mann nickte und winkte sie hinein in einen kleinen Saal mit aufgebockten Tischen und Holzbänken. Es erschienen andere, ähnlich gekleidete Männer, und zwei gingen hinaus, um sich um die Pferde zu kümmern. Zwei weitere, der eine jung, der andere alt, führten die Gäste durch einen Durchgang in entgegengesetzte Richtungen. All dies geschah, ohne dass die grau gekleideten Männer ein Wort sprachen.
»Wenn die Glocke ertönt, komm zurück in den Saal«, erklärte Arden Gemma, als sie getrennt wurden. »Es wird etwas zu essen geben.«
Gemma folgte dem älteren Bruder, der sie in eine kleine Kammer führte. Die Steinmauern waren schmucklos und das Fenster zu hoch, um hinauszusehen. Auf dem hölzernen Bett lagen sauber gefaltete Decken. Ein Tisch sowie ein einzelner Stuhl bildeten die einzigen weiteren Möbel.
Gemma bedankte sich und setzte ihr kleines Bündel ab. Der Mann nickte und schien gehen zu wollen.
»Kann ich mich irgendwo waschen?« fragte sie rasch. Die strenge Umgebung hatte sie verunsichert, und sie wollte den menschlichen Kontakt nicht so schnell missen. Sobald er sie verlassen hatte, war sie in diesem Flügel des Gebäudes bestimmt völlig alleine. Statt einer Antwort zeigte ihr der Bruder eine andere Kammer etwas weiter den Gang hinunter. Darin befand sich eine riesige Steinwanne. Aus dem Wasser stiegen einige Dampfschwaden in die Höhe. Dann machte er kehrt und ging, und diesmal hielt Gemma ihn nicht zurück.
Sie wusch sich rasch in dem lauwarmen Wasser, kehrte dann in ihr Zimmer zurück, schlug die Decken auf, legte sich hin und starrte an die Decke. Was soll ich jetzt tun? fragte sie sich. Darf ich hinaus? Darf ich mich nach Belieben Umsehen? Gibt es unter den Brüdern irgendjemanden, der spricht? Sie wollte sich nicht ausruhen, um die Glocke nicht zu verschlafen. Warum hatte man Arden und sie getrennt? Sie glaubte, die Antwort darauf zu wissen, trotzdem vermisste sie ihn.
Und die ganze Zeit über sträubte sich noch etwas anderes in ihrem Innern gegen dieses Eingesperrtsein.
Die Glocke rettete sie vor weiteren Grübeleien. Das bedrückende Schlagen war viel lauter als nötig. Gemma eilte in den Saal, und als sie sah, dass er leer war, ließ sie sich auf einer der Bänke nieder. Kurz darauf kam Arden herein, gefolgt von mehreren Brüdern. Man setzte den beiden Gästen Brot, Käse, eine Art Haferschleim und Gemüse vor, dann nahmen die Brüder ihre Plätze ein. Auffallend war, dass nur ältere Männer neben Gemma saßen.
»Alles in Ordnung?« erkundigte sich Arden.
Gemma nickte. Das Schweigen der Brüder hatte sie eingeschüchtert, und sie wollte nicht sprechen.
»Dann iss.«
Nach der Mahlzeit entschuldigte Arden sich und ging hinüber zu dem Bruder, der ihnen die Tür geöffnet hatte. Es folgte eine kurze, geflüsterte Unterhaltung, während der beide Männer zu Gemma hinübersahen.
Ein Verdacht regte sich in ihr. Er klärt meine Bewachung ab! dachte sie. Damit ich nicht fortlaufe.
Empörung stieg in ihr hoch, doch gab es auch einen Teil von ihr, der anders darüber dachte. Dieser Teil wurde Opfer eines völlig entgegengesetzten Gefühls, eines Gefühls, das sie erschütterte.
Erleichterung.
13. KAPITEL
Gemma war selbst überrascht, dass sie in jener Nacht recht fest schlief. Sie hatte sich von der heiteren Umgebung beeinflussen lassen. Zum erstenmal seit ihrer Abreise träumte sie von ihrer Heimatinsel. Doch selbst das war tröstlich, denn sie wurde nicht von der Unrast und dem Unglück heimgesucht, das bezeichnend war für ihre letzten Monate dort. Cai hatte zu ihr gesprochen, sein jungenhaftes Gesicht war so ansehnlich wie immer, doch beim Erwachen konnte sich Gemma nicht mehr an
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