Die träumende Welt 01 - Der Traumstein
plötzlich leise lachen. Und was ist mit mir?
Als sie den grasbewachsenen Hang zur Hälfte hinter sich hatten, setzte die Musik des singendes Sandes ein. Gemma hallten die Ohren wider von der Schönheit der Melodien, und sie wand sich im Sattel nach hinten, um zu sehen, woher sie kamen. Mischa blieb stehen, sie wusste nicht, was man von ihr verlangte. Eine starke Sehnsucht erwachte in Gemmas Herzen. Ich sollte nach Süden reiten. Warum habe ich zugelassen, dass dieser Mann mich nach Norden schleppt? Es war das erste Mal, dass sie ihre Handlungsweise in Frage stellte. Seit Arden sie gerettet hatte, waren die beiden stillschweigend davon ausgegangen, dass sie mit ihm reiten würde. Jetzt jedoch, als die verführerische Melodie immer lauter wurde und durch ihren Kopf pulsierte, erkannte Gemma plötzlich, dass ihre Bestimmung im Süden lag - und je eher sie dorthin kam, desto besser.
»Das ist bloß der Wind«, meinte Arden. Gemma überhörte den flehenden Unterton in seiner Stimme.
»Ich muss gehen«, sagte sie und blickte wieder nach Südwesten.
»Es kommt aus den Höhlen unter der Wüste«, fuhr er verzweifelt fort. »Der Wind verfängt sich dort und löst alle möglichen Schwingungen aus. Ich habe es oft gehört und manchmal auch gespürt.«
»Es ruft mich.«
»Es ist nur ein Trick, Gemma.«
»Nein!« Ihr Kopf wirbelte herum, und sie sah ihn wütend an.
»Wenn du dem Geräusch folgst, wirst du sterben«, sagte er ruhig. Unter der Oberfläche kochte er vor Wut. »Du bist noch zu schwach ...»
»Das verstehst du nicht«, jammerte sie.
»Nein, allerdings nicht!« brüllte er, und seine Augen blitzten. »Du bist verrückt, warum willst du dich umbringen?«
»Es ist nicht nur der singende Sand«, versuchte Gemma zu erklären. »Es ist der Süden. Alles zieht mich dorthin. Diese ganze Reise ...«
»... hätte dich beinahe umgebracht«, beendete Arden den Satz für sie, »und das werde ich nicht noch einmal zulassen. Du kommst mit mir, und wenn ich dich aufs Pferd binden und an die Kandare nehmen muss.«
Die beiden sahen sich finster an, ganz ruhig, während die Musik in Wellen über sie hinwegspülte, lauter und wieder leiser wurde, sie anlockte und von sich wies. Gemma war es, die, erschöpft von ihrer Streiterei, zuerst die Augen niederschlug. »Ich komme mit«, sagte sie leise. »Erst einmal.«
Arden nickte. Sein Gesicht entspannte sich ein wenig.
»Aber irgendwann muss ich trotzdem noch nach Süden«, fuhr sie fort.
»Wenn du meinst«, räumte er ein. Sein Ton verriet, dass ihn die Zukunft nicht sonderlich interessierte.
Als sie weiter den Hang hinabritten, brach die Musik unvermittelt ab, doch die Sehnsucht, die sie in Gemma erweckt hatte, blieb. Nicht einmal die ehrfurchtgebietende Eleganz der Abtei konnte ihre Stimmung heben.
Sie stiegen ab, betraten das Gelände und führten die Pferde zwischen die Gebäude. Aus der Nähe betrachtet, war der Hauptsaal noch außergewöhnlicher, und Gemma vermutete sofort, dass bei seiner Erbauung Magie angewandt worden sein musste. Die größten Gebäude auf ihrer alten Heimatinsel - Stadtmauern, Türme - waren vor langer Zeit von Magiern unter Verwendung von Fertigkeiten erbaut worden, die der Welt längst verlorengegangen waren, und es schien unvorstellbar, dass dieses wuchtige Gebäude allein von Menschenhand stammte. Fenster ragten in die Höhe, ihre Bögen reckten sich in den Himmel, und in den Fassungen hingen noch einige vergessene bunte Glassplitter.
Als es noch intakt gewesen ist, muss es ein hinreißender Palast gewesen sein, dachte sie staunend.
Schweigend gingen sie weiter. Das kurze, gepflegte Gras der Innenhöfe dämpfte die Hufe der Pferde. Sie kamen an weiteren kleineren Sälen vorbei, einige waren nichts als eingestürztes Mauerwerk, doch sie alle erweckten den Eindruck von Unvergänglichkeit, von Ruhe, so als wäre die Abtei von all den Unruhen, deren Zeuge sie geworden war, unberührt geblieben. Trotz ihrer Beklommenheit musste Gemma den Reiz des Ortes eingestehen. Das war ihr ein kleiner Trost, und sie verstand, warum die Brüder noch immer zwischen den Ruinen lebten.
Sie erblickte Kellergewölbe, dickwandige Lagerräume, das geschwungene Dach einer Darre, längliche, strenge Säle mit kleinen, hohen Fenstern und schließlich ein rechteckiges Gebäude, dessen Dach intakt war und dessen Fenster Glas enthielten. Von drinnen war Gesang zu hören, feierliche Worte, die sie nicht verstand, zu einer Melodie, die schlicht war und sich ständig
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