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Die träumende Welt 01 - Der Traumstein

Die träumende Welt 01 - Der Traumstein

Titel: Die träumende Welt 01 - Der Traumstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Wylie
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Mittlerweile funktionierte ihr Verstand auf mehreren Ebenen gleichzeitig. Das hätte sie eigentlich verwirren müssen, doch entwickelte sie ein meisterliches Geschick dafür, jeden einzelnen Gedanken für sich klar und direkt zu verfolgen. Sie merkte, dass ihr Zorn verflogen war, und der Gedanke an die bevorstehende Nacht erfüllte sie nicht mehr mit Angst. Vage ahnte sie, dass dies nicht so war, wie es sein sollte. Trotzdem, der Gedanke war zu tröstlich, um ihn aufzugeben. Fast freute sie sich auf ihren >Auftritt<, während gleichzeitig eine leise Stimme ihr Dinge einzuflüstern suchte, von denen sie nichts wissen wollte. Meine Bewegungen sind nicht beeinträchtig, dachte sie und bewies es, indem sie das Glas genau auf den kreisrunden Flecken zurückstellte, den es auf dem Tablett hinterlassen hatte. Sie stand auf, schlug ein Rad und landete neben dem Bett. Sie ließ sich rücklings darauf fallen und musste lachen: Sie war bereit für ihren Auftritt!
    In diesen Kleidern lässt sich nirgends eine Waffe verstecken, beharrte die innere Stimme. Eine Waffe? Warum sollte sie eine Waffe brauchen? Merk dir den Weg zu der Versteigerung, befahl ihr anderes Selbst.
    Wieder ein anderer Teil ihres Verstandes tagträumte von der Vergangenheit, von der Zukunft, einem Gewebe aus Zeiten, das ihr durchaus logisch erschien. Lächelnde Gesichter blitzten vor ihr auf: Arden, Zana, Keran, ihr lange verstorbener Vater, ein Soldat, ein alter Mann mit nur einem guten Auge, Mendle, andere, die sie nicht erkannte, Cai. Cai.
    Cai lächelte nicht. Seine grünen Augen waren vor Angst oder Wut weit aufgerissen. Genau konnte sie es nicht sagen.
    Warum bist du nicht glücklich? flehte sie. Eine eiskalte Kralle umschloss ihr Herz. Sein zerrissenes Bild verärgerte sie.
    Und dann war er verschwunden. Andere hatten seinen Platz eingenommen, und Gemmas eigenes Lächeln war wieder da. Sie lag auf dem Rücken und starrte auf den Baldachin über ihrem Kopf. Plötzlich faszinierte sie die Stickerei der zwei ineinander verschlungenen Schlangen darauf. Was taten sie? Kämpften sie? Rangen sie miteinander? Liebten sie sich? Gemma fing an zu kichern, und die Lindwürmer fingen an, sich zu bewegen. Gelbe Augen blitzten, die Schuppen blinkten, Flammen schossen aus ihren Nüstern. Sie schloss die Augen. Plötzlich wurde ihr schwindelig und übel. Das Pandämonium in ihrem Kopf ließ allmählich nach, und vorsichtig öffnete sie die Augen wieder: Die Schlangen rührten sich nicht, jeder Stich war deutlich zu erkennen, bewegte sich aber nicht.
    Unter all dem regten sich unbekannte Vorstellungen, verschmolzen zu etwas Seltsamem, als seien sie aus Quecksilber und für sie ungreifbar. Sie spürte, zu was es fähig war, nicht jedoch seine Kraft. Warten.

16 . KAPITEL
    Gemma wartete bereits, als sie kamen, um sie zu holen. Irgendein sechster Sinn hatte ihr gesagt, dass es kurz vor Mitternacht sein musste. Sie stand mitten im Zimmer, umflutet vom warmen Schein der Lampe, als die Tür aufging. Mendle betrachtete sie voller Wohlwollen.
    »Wie eine Rose«, meinte er. »Eine rote Rose.«
    Gemma musste lächeln. Ohne seine Augengläser wäre er ziemlich hilflos, kommentierte die innere Stimme.
    »Erlauben Sie mir, Sie zu begleiten«, sagte Mendle. Gemma trat vor und nahm seinen dargebotenen Arm. Sie fand Gefallen an seiner Höflichkeit. Ein anderer, kleiner, unbedeutender Teil war außer sich über die Heuchelei jenes Mannes, der sie eingesperrt und wie eine Hure gekleidet hatte und der sie jetzt wie eine Königin behandelte. Als ihr diese Ironie bewusst wurde, musste sie lachen, und Mendle warf ihr einen Seitenblick zu, als sie den Gang entlangliefen und Ziv sich ihnen anschloss.
    »Ich freue mich, dass Sie in guter Stimmung sind«, meinte er.
    Mehrere Gemmas gingen neben ihm her, und sie alle dachten über die Bemerkung nach. Die Antwort war eine Mischung ihrer Schlussfolgerungen.
    »Was bleibt mir übrig? Ich bin froh, dass Sie sich entschlossen haben, mich persönlich abzuholen.«
    »Ist mir ein Vergnügen«, erwiderte er. »Schließlich sind Sie meine Hauptattraktion.«
    »Ich?« Gemma fühlte sich geschmeichelt, verwirrt und angewidert zugleich, doch nur die Überraschung spiegelte sich in ihrem Gesicht. »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Sie müssen es mir zeigen.«
    »Das kann Ihnen niemand beibringen«, sagte er. »Am allerwenigsten ich. Ich verfüge selbst über keinerlei Schönheit. Es ist etwas ganz Natürliches. Wer es besitzt - wie Sie - braucht es nicht zu

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