Die Träumerin von Ostende
erschien ich im Bordell von Madame Georges. Was mochte diese dralle, rothaarige Frau mit den Goldzähnen in ihren viel zu engen, maßgeschneiderten Kleidern aus schlankeren Tagen gedacht haben, als sie die kleine Göre kommen sah? Ich habe es nie erfahren. Immerhin gelang es mir, durch ihren frostigen Empfang zunächst entmutigt, sie zu guter Letzt doch noch von meiner Arglosigkeit zu überzeugen: Nein, ich suchte keine Arbeit bei ihr; nein, ich kam nicht, um meinen Vater eifersüchtig zu überwachen; nein, ich kam nicht, um die Namen ihrer Kunden herauszufinden und an deren Ehefrauen in Kinshasa weiterzugeben.
»Was suchst du hier schon wieder? Was zieht dich so an? Deine Neugierde ist ungesund …«
»Ich bin zwar neugierig, Madame, aber ich sehe darin nichts Ungesundes. Mich interessiert einfach alles, was mit Lust zu tun hat. Die bieten Sie hier doch an, oder?«
»Ja, gegen Geld. Aber es gibt weiß Gott andere Orte, an denen du dich kundig machen kannst.«
»Tatsächlich? Wo? Bei mir zu Hause gibt es keine Frauen, meine Mutter ist tot; meine Ammen behandeln mich wie ein kleines Mädchen; niemand will mir etwas sagen! Ich will Frauen sehen, richtige Frauen. Frauen wie Sie und Ihre Mädchen.«
Glücklicherweise las Madame Georges leidenschaftlich gern Romane. Seit sie sich keinen Männern mehr hingab – oder besser, seit die Männer nicht mehr nach ihr verlangten –, gab sie sich ganz ihren Leseorgien hin. Da ich ihr Bücher lieh, die sie nicht hatte, und mit ihr über sie sprach, konnte ich Madame Georges für mich einnehmen und wurde so in einem unergründlichen Teil ihres Gehirns zu der Tochter, die sie sich immer gewünscht hatte. Ich, meinerseits, spielte dieses Spiel gerne mit, denn Madame Georges, oder besser Madame Georges’ Welt, faszinierte mich.
Weil sie ein auf die Lust der Männer ausgerichtetes Unternehmen führte, hatte sie auch keine Angst vor ihnen.
»Du musst vor Männern keine Angst haben, meine Kleine. Sie brauchen uns genauso wie wir sie. Kein Grund also, vor ihnen zu kuschen, niemals. Merk dir das.«
Mit der Zeit erhielt ich Zutritt zum blauen Salon, dem Raum, der Männern verboten war. Dort ruhten sich die Mädchen zwischen zwei Kunden aus und schwatzten miteinander; sie gewöhnten sich allmählich an mich, achteten nicht mehr darauf, was sie sich erzählten, und so erfuhr ich, was zwischen Mann und Frau geschah, in allen Details und Variationen. Ich habe die Liebe gelernt, wie ein Koch die Gastronomie entdeckt, nämlich in der Küche.
Aus Freundschaft erlaubte mir eines der Mädchen, »Madames Guckfenster« zu benutzen, eine Öffnung, wie sie sich in jedem Zimmer befand, damit Madame ein Auge auf suspekte Kunden haben konnte.
Und so besuchte ich im Alter von zwölf bis siebzehn Jahren eifrig und regelmäßig das Bordell von Madame Georges, das mein zweites Zuhause wurde. Denn zwischen uns hatte sich, so unglaublich dies auch klingen mag, eine solch innige Zuneigung entsponnen, dass Madame Georges niemandem von meinen Besuchen erzählte. Uns verband eine lebhafte Neugierde für andere, eine Neugierde, die sie zunächst mit der Prostitution und anschließend mit Büchern stillte. Im Übrigen drang sie darauf, dass ich ihr nicht nacheiferte, weder ihr noch ihren Zöglingen, und nahm sich teilweise meiner Erziehung an.
»Du musst dich natürlich geben, ›keusch‹, vom Typ Jungfrau, aber in modern. Selbst wenn du dich schminkst, musst du aussehen, als hättest du nichts auf dem Gesicht.«
Und so wirkte ich, ungeachtet meines täglichen Umgangs mit Huren, wie ein durch und durch achtbares Mädchen.
Bis mir eines Tages einer meiner Cousins einen Strich durch die Rechnung machte. Er sah, wie ich in die Villa Violette ging und sie wieder verließ, und verriet mich bei meinem Vater.
Der rief mich, es war mein siebzehnter Geburtstag, zu sich in sein nobles Arbeitszimmer, um mich zur Rede zu stellen.
Ich erzählte ihm alles, verschwieg ihm nichts.
»Schwöre mir, Emma, dass … dass … nun, du verstehst schon … dass … du dich keinem Mann …«
Er war außerstande auch nur einen Satz zu Ende zu bringen … Ich glaube, er entdeckte während unseres Gesprächs, dass er mein Vater war und, zum ersten Mal, dass er Pflichten hatte.
»Papa, ich schwöre dir, ich habe nichts dergleichen getan. Und du kennst Madame Georges, mit ihr ist nicht zu spaßen! Man kann ihr nichts vormachen.«
»Das … das … stimmt«, stammelte er errötend. Es war ihm peinlich, dass ich mit
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