Die Träumerin von Ostende
Gerda und dann von Emma selbst gehört hatte, und verspürte ein vages Unwohlsein. Ich blieb mehrmals auf den langen verlassenen Quais stehen und betrachtete die Wellen. Ich fühlte mich landkrank und musste mich setzen.
An diesem Dienstag waren alle Touristen wie vom Erdboden verschluckt, und ich hatte Ostende wieder unversehrt und menschenleer für mich allein. Dennoch rang ich nach Luft.
Bisher hatte ich bei meinen Aufenthalten am Meer immer den Eindruck, der Horizont entziehe sich meinem Blick; hier aber, im Norden, richtete er sich wie eine Mauer vor mir auf. Ich stand vor keinem Meer, über das man entfliehen konnte, sondern vor einem Meer, das einen daran hinderte. Es rief nicht zum Reisen auf, sondern stellte sich einem als Bollwerk entgegen. Hatte Emma van A. ihr Leben deshalb hier verbracht, auf ewig gefangen im Exil ihrer Erinnerungen?
Ich klammerte mich an das Stahlgeländer am Rande des Quais. Beim Verlassen der Villa hatte mir kurz etwas zu schaffen gemacht – ein Gefühl, eine Erinnerung, die einen bitteren Geschmack in meinem Mund hinterlassen hatten. Was nur war es?
Während ich auf die Terrasse einer Brasserie zusteuerte, um etwas zu trinken, fiel es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen, die Stühle dort riefen ein klares Bild in mir wach: die Verrückte von Saint-Germain!
Zwanzig Jahre zuvor, ich war gerade nach Paris gekommen, um dort mein Studium fortzusetzen, war mir diese seltsame Gestalt eines Abends, als meine Freunde und ich vor einem Kino anstanden, begegnet.
»Mesdames, Messieurs, ich werde jetzt für Sie tanzen.«
Ein weiblicher Clochard mit glatten Haaren von undefinierbarer Farbe – einige gelb, andere aschgrau – blieb vor der Gruppe stehen, die gerade in den Kinosaal wollte, stellte ihre Habseligkeiten in einer Toreinfahrt unter und ging dann, ohne sie aus dem Blick zu lassen, zu uns.
»Die Musik ist von Chopin!«
Sie begann mit leiser, piepsiger Stimme zu singen, hüpfte dazu in ihren vormals weißen Ballettschuhen umher und untermalte, während ihr die schäbige Baskenmütze vom Kopf zu rutschen drohte, ihre Bewegungen mit einem rosa Schal, den sie über ihr geblümtes Kleid gleiten ließ. Die Lässigkeit, mit der sie ihre Schau abzog, war faszinierend. Sie summte die Melodie arhythmisch und ungenau vor sich hin, wie sie ihr gerade einfiel und sofern sie nicht zu sehr außer Atem war; ihre Tanzschritte deutete sie nur an. Sie wirkte wie ein vierjähriges Mädelchen, das vor einem Spiegel vergnügt Ballerina spielte. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich dessen bewusst war und sich für die Einzige hielt, die tun konnte, was sie tat. Ihren Mundwinkeln entnahm ich, dass sie uns jegliche Kennerschaft absprach. »Ich gebe hier irgendwas zum Besten, und die merken’s nicht mal, sie verdienen’s nicht besser.«
»So, das war’s, fertig!«
Sie raffte ihr ausladendes, imaginäres, in einer unsichtbaren Schleppe endendes Kleid zusammen und verbeugte sich langsam und hoheitsvoll.
Diejenigen, die ihr schon öfter begegnet waren, applaudierten. Halb aus Mitleid, halb aus Sadismus begannen wir, sie mit Pfiffen und Gegröle stürmisch zu feiern, und veranlassten auch die Gaffer, ihr zuzujubeln, bis sie uns, schweißgebadet und erschöpft von ihren vielen Verbeugungen, schrill zurief:
»Nur keine falschen Hoffnungen, Zugaben gibt’s nicht!«
Dann baute sie sich vor uns auf und hielt uns ihre rote Baskenmütze hin.
»Für den Tanz, meine Damen und Herren. Für die Künstlerin, wenn ich bitten darf. Meinen Dank im Namen der Kunst.«
Ich begegnete ihr danach noch oft. Eines Tages schwankte sie mit roter Nase und trüben Augen auf die Warteschlange zu und hatte ganz offensichtlich zu viel getrunken. Während sie ihren Krempel abstellte, trällerte sie ein paar Noten und begriff nach einigen Versuchen, dass sie außerstande war, ihr Pseudo-Ballett aufzuführen.
Sie wurde wütend. Warf uns einen finsteren Blick zu.
»Ihr macht euch über eine arme alte Frau lustig, hm? Aber ich war nicht immer so, ich war sehr schön, jawohl, sehr schön, in meinen Tüten da hab ich noch die Fotos. Und überhaupt, ich sollte Baudouin heiraten! Ganz richtig, König Baudouin, den König der Belgier, die Belgier haben nämlich nicht nur so armselige Präsidenten wie wir, sie haben echte Könige! Jawohl, und um ein Haar wär ich die Königin der Belgier geworden, ganz richtig! Königin der Belgier, und warum, weil König Baudouin als junger Mann schlichtweg verrückt nach mir war. Und ich
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