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Die Träumerin von Ostende

Die Träumerin von Ostende

Titel: Die Träumerin von Ostende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
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müssen, um zu leben, doch was musste das für ein Leben gewesen sein mit diesem sicherlich liebreizenden, aber in seiner Behinderung erniedrigten Körper? Wie konnte man ihr verübeln, dass sie, um ihrem Dasein zu entfliehen oder es zu bereichern, Gebrauch von dem gemacht hatte, was ihr zur Verfügung stand, nämlich ihrer Phantasie?
    Und mit welchem Recht warf ich, ein Romanautor, ihr ihre poetische Improvisation vor?
    Ich ging zu ihr. Sie fuhr zusammen, lächelte und wies auf einen Stuhl.
    Ich setzte mich ihr gegenüber und fragte sie:
    »Warum schreiben Sie das alles nicht auf? Es ist so faszinierend. Schreiben Sie ein Buch unter falschem Namen und nennen Sie es ›Roman‹.«
    Sie sah mich an, als hätte sie es mit einem Kleinkind zu tun.
    »Ich bin keine Literatin.«
    »Wer weiß? Es käme auf einen Versuch an.«
    »Ich weiß es, denn ich verbringe meine Zeit mit Lesen. Es gibt schon genug Hochstapler …«
    Ich lachte krampfhaft, als ich das Wort Hochstapler aus ihrem Mund vernahm, es schien mir aufschlussreich, dass gerade sie es gebrauchte, sie, die mich tags zuvor belogen hatte. In gewisser Weise ein Eingeständnis.
    Sie bemerkte meine Grimasse und griff freundlich nach meiner Hand.
    »Nein, nein, verstehen Sie das nicht falsch. Das gilt nicht für Sie.«
    Ihr Irrtum amüsierte mich. Demnach dachte sie, ich hätte ihr verziehen.
    »Ich bin überzeugt, dass Sie ein Künstler sind.«
    »Sie haben mich nicht gelesen.«
    »Stimmt!«, entgegnete sie ihrerseits laut auflachend, »aber Sie hören so gut zu.«
    »Wie ein Kind, ich glaube, was man sagt. Sie hätten mir gestern Märchen auftischen können, ich hätte es nicht gemerkt.«
    Sie nickte zustimmend, als sagte ich ihr einen Abzählreim auf. Ich wagte mich noch weiter vor:
    »Jede freie Erfindung ist ein Geständnis, jede Lügengeschichte eine persönliche Beichte. Sollten Sie mich gestern zum Besten gehalten haben, ich würde es Ihnen nicht verübeln, es Ihnen vielmehr danken, da Sie mich für Ihre Geschichte auserwählt, als würdigen Zuhörer betrachtet, mir Ihr Herz geöffnet und Ihre Phantasie geschenkt hätten. Kreativität ist etwas Einzigartiges! Kann man jemandem ein wertvolleres Geschenk machen? Ich hätte mich privilegiert gefühlt. Auserwählt.«
    In ihrem Gesicht zuckte es, ein Zeichen, dass sie allmählich begriff. Rasch fuhr ich fort:
    »Ja, Sie haben mich durchschaut, ich bin so etwas wie ein Bruder, ein Bruder in der Lüge, ein Mann, der wie Sie beschlossen hat, sich fabulierend preiszugeben. Heutzutage misst man der Aufrichtigkeit in der Literatur großen Wert bei! Was für ein Unsinn! Aufrichtigkeit kann lediglich im Falle eines Protokolls oder einer Zeugenaussage eine Qualität sein – und selbst dann ist sie eher eine Pflicht als eine Qualität. Das Konstrukt, die Kunst, Interesse zu wecken, die Gabe des Erzählens, die Fähigkeit, Fernes nahezubringen, etwas wachzurufen, ohne es zu beschreiben, das Vermögen, die Illusion des Wahren zu vermitteln, all das hat nichts mit Aufrichtigkeit zu tun und schuldet ihr auch nichts. Geschichten, die sich nicht aus der Wirklichkeit speisen, sondern aus der Phantasie, aus ersehnten Szenarien, unerfüllten Wünschen und ungezügeltem Verlangen, bedeuten mir mehr als alles, was in den Zeitungen steht.«
    Sie riss die Augen auf und verzog den Mund.
    »Sie … Sie glauben mir nicht?«
    »Nicht ein Sekunde lang, aber das hat nichts zu sagen.«
    »Was?«
    »Ich danke Ihnen trotzdem.«
    Woher nahm sie die Kraft? Sie stieß mich so heftig vor die Brust, dass ich zu Boden ging.
    »Dummkopf!«
    Sie war außer sich.
    »Verschwinden Sie! Verlassen Sie auf der Stelle diesen Raum! Ich will Sie nicht mehr sehen.«
    Gerda, die ihr Geschrei vernommen hatte, kam besorgt in die Bibliothek gestürzt.
    »Was ist passiert?«
    Als Emma ihre Nichte sah, suchte sie rasch nach einer Antwort. Unterdessen hatte mich die stämmige Mamsell auf dem Teppich entdeckt und half mir eilig auf.
    »Na so was, Monsieur! Du bist gefallen! Wie hast du das denn angestellt? Bist du etwa über den Teppich gestolpert?«
    »Ja, Gerda, er ist über den Teppich gestolpert. Deshalb habe ich dich auch gerufen. Und jetzt lasst mich bitte allein, ich muss mich ausruhen. Allein!«
    Angesichts dieses keinen Widerspruch duldenden Befehls der alten Dame traten Gerda und ich den Rückzug an.
    Wieder heil zurück auf meiner Etage, machte ich mir Vorwürfe, dass ich diese Krise provoziert hatte. Ich hielt Emma für eine Lügnerin und nicht für gestört.

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