Die Träumerin von Ostende
Ihre Reaktion zeigte, dass sie an ihre Hirngespinste glaubte. Und jetzt litt sie durch meine Schuld noch mehr. Was tun?
Gerda erschien unter dem Vorwand, mir Tee zu bringen, wollte in Wirklichkeit aber nur herausfinden, was sich zwischen uns abgespielt hatte.
»Was hast du denn zu ihr gesagt? Sie war ja ganz außer sich vor Zorn!«
»Ich habe ihr gesagt, dass ich vielleicht nicht alles von dem, was Sie mir gestern erzählt hat, glaube …«
»Ah ja … ich verstehe …«
»Ferner habe ich gesagt, dass mich ihre Geschichte fasziniert hat und dass ich es nicht schlimm fände, wenn sie nicht ganz wahr wäre. Da hat sie mich geschlagen.«
»Au weh!«
»Ich wusste nicht, dass sie sich dermaßen in die Sache hineingesteigert hat. Das ist nicht mehr normal. Ich habe sie für eine Lügnerin oder eine Mythomanin gehalten, ich hätte nie gedacht, dass sie …«
»Verrückt ist?«
»Oh, das Wort ist …«
»Tut mir leid, Monsieur, aber du musst zugeben, dass Tante Emma nicht ganz richtig ist im Kopf. Du glaubst doch wohl selbst nicht, dass die Romane, die du schreibst, wahr sind? Nie im Leben. Also, das mein ich damit: Meine Tante ist plemplem. Ist ja nicht das erste Mal, dass wir davon reden … Schon Onkel Jan war der Meinung! Tante Eliette auch!«
Ich schwieg. Ob ich wollte oder nicht, ich musste diesem plumpen Wesen recht geben; wenn der gesunde Menschenverstand wie ein dumpfbackiges Wildschwein daherkommt, in einem gigantisch geblümten Kittel, mit gelben Gummihandschuhen, einem ärmlichen Vokabular und einer schwächelnden Syntax, empfinde ich ihn als wenig verlockend. Dennoch musste ich ihm zustimmen: Emma van A. hatte, ohne sich dessen bewusst zu sein, der realen Welt den Rücken gekehrt, zugunsten einer Phantasiewelt.
Gerda verschwand, um das Essen zuzubereiten.
Ich meinerseits wusste nicht, was ich tun sollte. Hier bleiben oder Emma beschwichtigen. Ich ertrug es nicht, sie meinetwegen unglücklich zu sehen. Besser, ich log, als dass ich sie betrübte.
Als Gerda um neunzehn Uhr das Haus verließ, ging ich hinunter in den Salon.
Vor dem verlöschenden Tag saß Emma van A. im dämmrigen Halbdunkel der Bibliothek an ihrem gewohnten Platz. Ihre Augen waren gerötet. Ich ging langsam zu ihr.
»Madame van A. …«
Meine Worte verhallten in der Stille des Raumes.
»Darf ich mich setzen?«
Da sie keinerlei Reaktion zeigte, kam ich mir vor, als hätte ich weder Stimme noch Gestalt. Doch obgleich sie mich keines Blickes würdigte und kein Wort an mich richtete, spürte ich an der unmäßigen Anspannung ihrer Muskeln und ihrem starr geradeaus gerichteten Blick, dass sie meine Gegenwart durchaus wahrnahm, sie aber als unangenehm empfand.
Ich musste dieser verfahrenen Situation rasch ein Ende bereiten:
»Madame van A., ich bin untröstlich über das, was heute Nachmittag passiert ist, es ist allein meine Schuld. Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist. Wahrscheinlich war ich eifersüchtig. Ja, bestimmt. Ihre Vergangenheit ist so überwältigend, dass ich mir einreden musste, sie sei erlogen, Sie hätten sie erfunden. Sie müssen verstehen, normale Menschen wie ich tun sich schwer mit solch … solch außergewöhnlichen Dingen. Ich bitte Sie um Verzeihung. Ich war zutiefst verärgert. Ich wollte Ihr Glück mit Füßen treten, hätte am liebsten geschrien, dass es so etwas nicht gibt. Verstehen Sie mich?«
Sie drehte sich zu mir um, und auf ihrem Gesicht breitete sich ein triumphierendes Lächeln aus.
»Eifersüchtig? Wirklich eifersüchtig?«
»Ja. Ich fordere jeden heraus, der, wenn er Sie hört, nicht vor Ärger und Neid stirbt …«
Sie betrachtete mich freundlich. Ich musste ihr Vertrauen unbedingt zurückgewinnen.
»Zweifellos haben Sie deshalb nie über sich selbst gesprochen: Sie wollten keine Eifersucht schüren.«
»Nein. Mein Versprechen hat mich davon abgehalten. Und dann der Gedanke, dass man mich für verrückt erklären könnte.«
»Für verrückt … Aber weshalb?«
»Es gibt so viele Leute, die ein so erbärmlich langweiliges Leben führen, dass sie anfangen, ungereimtes Zeug zu erzählen, und schließlich selbst daran glauben. Was ich durchaus verstehen kann.«
Mysterium der Worte … Wie Vögel, die sich auf einen Ast setzen, ohne dass der Baum es bemerkt. Emma van A. hatte soeben ihren eigenen Fall beschrieben, ohne sich darin wiederzuerkennen, als handelte es sich um eine Krankheit, die nur andere betraf.
Ich spürte, dass sie sich beruhigt hatte. Daher war auch
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