Die Träumerin von Ostende
so lange in Anspruch genommen habe.«
»Warum haben Sie verschwiegen, dass Sie körperbehindert waren?«
Sie verkrampfte sich. Machte einen steifen Hals, reckte ihn um zwei Zentimeter.
»Weil mein Leben nicht das einer Behinderten ist noch jemals war.«
Sie sah unvermittelt prüfend zu mir auf, misstrauisch, fast feindselig.
»Ich begreife, meine Nichte, dieses Klatschmaul, hat Sie unterrichtet …«
»Sie kam rein zufällig darauf zu sprechen; sie wollte sich auf keinen Fall über sie lustig machen; im Gegenteil, sie zeigte tiefes Mitgefühl mit Ihrem Leiden.«
»Mitgefühl? Das sollen sich die Leute bei mir lieber sparen. Zum Glück hat mich der Mann meines Lebens mit seinem Mitleid verschont.«
»Hat er mit Ihnen denn nicht über Ihre Behinderung gesprochen?«
»Doch, damals, als er in Heiratslaune war, als er unsere Verbindung bekanntgeben wollte … Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte! Ich sagte ihm, das Volk würde vielleicht eine Bürgerliche akzeptieren, aber gewiss keine Behinderte. Da erzählte er mir von einer französischen Königin, von Johanna der Lahmen. Einige Wochen lang nannte er mich sogar so. Es kostete mich einiges, die Sache mit Humor zu nehmen.«
»Wollten Sie deshalb, dass Ihre Verbindung geheim blieb? Im Grunde ging Guillaume mit Ihrem Gebrechen doch sehr viel unbeschwerter um als Sie …«
Sie warf den Kopf in den Nacken und lehnte sich in ihren Rollstuhl zurück. Ihre Augen wurden feucht.
»Möglich.«
Ihre Stimme brach. Ihr Mund zögerte. Ich begriff, dass hinter ihren Lippen noch ein anderes Geheimnis auf mich wartete.
»Was ist?«, fragte ich sanft.
»Die Tuberkulose war die eigentliche Ursache für meine Sterilität. Meine Knochenerkrankung und die damit verbundene Behandlung haben mich unfruchtbar gemacht. Andernfalls hätte ich vielleicht den Mut gehabt, Guillaume zu heiraten …«
Sie sah mich eindringlich an, ehe sie fortfuhr:
»Idiotisch, diese Sätze mit ›andernfalls‹ und ›wäre ich nicht krank gewesen‹! Nichts als Selbstbetrug, sie machen alles nur noch schlimmer! Ohne dieses ›Andernfalls‹ konnte mein Schicksal seinen Lauf gar nicht nehmen. Zu solchen Mutmaßungen darf man sich gar nicht erst hinreißen lassen, sie sind ein nie versiegender Schmerzensquell. Mir ist Hässliches widerfahren und Schönes, ich darf mich nicht beklagen! Das Hässliche war meine Krankheit. Das Schöne war Guillaumes Liebe.«
Ich lächelte ihr zu. Sie wurde ruhiger.
»Madame, ich würde Sie gerne etwas fragen, traue mich aber nicht.«
»Nur zu. Trauen Sie sich.«
»Lebt Guillaume noch?«
Sie holte tief Luft, um dann doch nicht zu antworten. Stattdessen drehte sie ihren Rollstuhl um und fuhr auf einen kleinen Tisch zu, nahm von dort ein silbernes Etui und legte es, als sie feststellte, dass es keine Zigaretten mehr enthielt, verärgert zurück. Trotzig griff sie nach einer leeren Zigarettenspitze aus Schildpatt und führte sie mit einer blasierten Geste zum Mund.
»Verzeihen Sie, Monsieur. Ich werde Ihre Frage nicht beantworten, denn ich möchte nicht, dass Sie herausfinden, wer der Mann ist, von dem ich spreche. So viel aber sei gesagt, Guillaume hieß nicht Guillaume, es handelt sich hierbei lediglich um ein Pseudonym, das ich ihm in meiner Geschichte gegeben habe. Vielleicht fällt Ihnen auch auf, dass ich seinen Rang in der Thronfolge nicht erwähnt habe. Und bedenken Sie schließlich, dass ich Sie explizit nicht habe wissen lassen, um welche königliche Familie es sich handelte.«
»Wie bitte? Es handelt sich hier nicht um das belgische Königshaus?«
»Das habe ich nicht gesagt. Es könnte ebenso gut das niederländische, schwedische, dänische oder englische Königshaus sein.«
»Oder das spanische!«, rief ich erbost.
»Oder das spanische«, bestätigte sie. »Ich habe Ihnen mein Geheimnis erzählt, nicht seines.«
Mir schwirrte der Kopf. Arglos hatte ich bis in alle Einzelheiten geglaubt, was sie mir am Vorabend erzählt hatte.
Als mir klarwurde, dass sie ungeachtet aller Emotionen sehr wohl wusste, was sie mir sagte und was nicht, sah ich sie mit einem Mal in einem anderen Licht, durchtrieben und berechnend.
Ich wünschte ihr einen guten Tag und brach zu meinem Spaziergang auf.
Während ich vor mich hin ging, zappelte ein seltsamer Gedanke zwischen meinen Schläfen, ein Gedanke, der mir zuvor nicht gekommen war. Eine Erinnerung machte mir flüchtig zu schaffen … wie ein Wort, das sich entzieht. Ich konnte nicht glauben, was ich von
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