Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Träumerin von Ostende

Die Träumerin von Ostende

Titel: Die Träumerin von Ostende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
Vom Netzwerk:
nach ihm. Jawohl! Wir waren sehr glücklich. Sehr. Bis dann diese Intrigantin kam, diese … diese …«
    Sie spuckte mehrmals aus, verärgert, zornig, hasserfüllt.
    »Bis dann diese Fabiola auftauchte!«
    Sie triumphierte, der Name ihrer Rivalin war ihr wieder eingefallen. Mit vor Gehässigkeit geweiteten Pupillen und gerunzelter Stirn herrschte sie uns an:
    »Fabiola hat ihn mir weggenommen! Jawohl! Weggenommen. Wo er doch verknallt war in mich. Die hatte da nichts zu suchen, die Spanierin, was fiel der eigentlich ein? Die wollte ihn heiraten, die hat ihn verhext. Und er hat mich sitzengelassen. Zack bumm, einfach so, Knall auf Fall.«
    Sie lehnte sich gegen eine Mauer, versuchte wieder Atem zu schöpfen.
    »Fabiola! Ist keine Kunst, mehrere Sprachen zu sprechen, wenn du mit dem Hintern in der Butter auf die Welt kommst und Kindermädchen aus England hast, aus Deutschland, Frankreich oder Amerika! Pah! … Hätt ich auch gekonnt, käm ich nicht aus der Gosse. Diebin! Diebin! Sie hat mir meinen Baudouin geklaut!«
    Die Stadtstreicherin war außer sich, fasste sich jedoch wieder und sah uns plötzlich an, als nähme sie uns eben erst wahr. Blitzschnell vergewisserte sie sich, ob ihre Tüten noch vollzählig an ihrem Platz standen, summte dann, nur ihren Oberkörper bewegend, eine undefinierbare Melodie und beendete ihren Auftritt abrupt mit einer kurzen, ehrerbietigen Verbeugung.
    »Das wär’s!«
    Ich hörte, wie sie abwechselnd vor sich hin nuschelte:
    »Für die Tänzerin … Intrigantin … Draufgängerin … Diebin … danke für den Tanz … Miststück von Fabiola!«
    Auf sie also brachte mich meine Träumerin von Ostende, auf diese Bettlerin, die ständig an die zehn Plastiktüten mit sich herumschleppte und von den Studenten der Sorbonne die Verrückte von Saint-Germain genannt wurde, da in Paris jedes Viertel sein eigenes Original hat.
    War meine Vermieterin besser als sie? Blitzartig wurde mir die Unglaubwürdigkeit ihrer Geschichte klar. Eine Liaison zwischen einer Körperbehinderten und einem Prinzen! Ihr Einfluss auf einen reichen und freien Mann, der so weit ging, dass sie ihm selbst seine Geliebten aussuchte! Anfang und Ende am Strand, in den Dünen, wie in einem Roman … Zu unwahrscheinlich dies alles, zu konstruiert! Kein Wunder, dass keine sichtbare Spur mehr übrig war von ihrer Geschichte: Es hatte sie nie gegeben.
    Misstrauisch geworden, vergegenwärtigte ich mir noch einmal, was Emma van A. mir erzählt hatte. Ihr in orangefarbenes Leder gebundenes Liebesbrevier – gehörte es nicht zum Besten, was es an erotischen Texten gab, namentlich von Frauen? Sind literarische Meisterwerke sinnlicher Kühnheit nicht oftmals das Werk von Außenseiterinnen, von Alleinstehenden, die sich, wissend, dass sie nicht für die Mutterschaft bestimmt sind, anders verwirklichen?
    Als ich zu Emmas Haus zurückkehrte, fiel mir ein Detail auf, und mit einem Mal erschloss sich mir alles: Über dem gläsernen Vordach nannte ein Mosaik in Gold und Silber den Namen des Ortes:
Villa Circé
! Die Tafel mit der Aufschrift musste im Nachhinein an dem Gebäude angebracht worden sein.
    Kein Zweifel: Homer hatte bei Emma van A. Pate gestanden! Sie hatte ihre Episoden frei nach ihrem Lieblingsautor ersonnen. Ihre in einem Traum angekündigte Begegnung mit Guillaume griff die Begegnung von Odysseus und Nausikaa auf, der jungen Frau, die einen nackten Mann am Meer entdeckt. Emma van A. hatte ihrer Villa den Namen
Circé
gegeben als Zeichen, dass sie sich mit der Frau identifizierte, die Odysseus betörte und die Männer listenreich verzauberte. Circé verachtete strickende oder webende Frauen vom Typ Penelopes, zu der Odysseus so lange nicht zurückkehrt. Auch ihre erotische Speisekarte war vom antiken Griechenland inspiriert. Kurz, Emma van A.s angebliche Erinnerungen waren frei erfunden, es waren literarische Reminiszenzen.
    Entweder hatte sie mich zum Narren gehalten, oder aber sie war eine Mythomanin. In beiden Fällen hatte sie, es erschien mir offensichtlich, die Wahrheit in Anbetracht ihrer – verheimlichten – Behinderung verfälscht.
    Entschlossen, ihr zu beweisen, dass ich die Sache inzwischen durchschaute, öffnete ich die Tür. Doch angesichts der fragilen, der Bucht zugewandten Gestalt im Rollstuhl verflüchtigte sich mein Ärger.
    Zärtliches Mitleid ergriff mich. Gerda hatte ihre Tante, als sie von ihr sprach, vollkommen zu Recht »die Ärmste« genannt. Die Unglückliche hatte zwar nicht arbeiten

Weitere Kostenlose Bücher