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Die Träumerin von Ostende

Die Träumerin von Ostende

Titel: Die Träumerin von Ostende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
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sie, leider, nicht nur in Gedanken, in den Abgrund gestoßen!
    Warum hatte sie Paulettes Äußerungen solche Beachtung geschenkt? Wie nur hatte sie sich auf das Niveau einer so abscheulichen Person begeben können, die einen so engen, boshaften Blick auf die Welt hatte? Nein, Paulette die Schuld zu geben wäre zu einfach. Sie war die Schuldige. Sie, Gabrielle. Sie und niemand sonst. Ihr stärkstes Argument, weshalb sie das Vertrauen in Gab verloren hatte, war: »Ein Mann kann unmöglich ein und dieselbe Frau über dreißig Jahre lang lieben.« Jetzt begriff sie, dass dies reine Projektion war und das Argument in Wahrheit hätte lauten müssen: »Ich bin außerstande, ein und denselben Mann über dreißig Jahre lang zu lieben.« Schuldig, Gabrielle de Sarlat ist schuldig! Die einzig Schuldige!
    Klingeln. Unruhe. Aufregung. Die Verhandlung wurde wieder aufgenommen. Es war, als würde das Rennen nach einer Unterbrechung fortgesetzt.
    Auf die Frage: »Sind die Geschworenen der Ansicht, dass die Angeklagte ihrem Mann vorsätzlich nach dem Leben getrachtet hat?«, antworteten die Geschworenen einstimmig mit »Nein«.«
    Ein Gemurmel der Zustimmung ging durch den Saal.
    »Somit wird kein Anklagepunkt gegen Gabrielle de Sarlat aufrechterhalten. Madame, Sie sind frei«, schloss der Richter.
    Gabrielle erlebte alles, was nun folgte, in einer Art Nebel. Man umarmte sie, gratulierte ihr, ihre Kinder vergossen Freudentränen und Maître Plissier stolzierte auf und ab. Als Dank erklärte sie ihm, dass sie jedes einzelne Wort seines Plädoyers tief in sich aufgenommen habe: Eine so privilegierte und glücklich verheiratete Frau konnte unmöglich eine solche Tat begehen, dies war undenkbar. Insgeheim aber sagte sie sich, dass dies eine andere Frau war, eine Fremde, eine Person, die nichts mit ihr zu tun hatte.
    Denen, die sie fragten, wie sie ihre Zeit in Zukunft zu verbringen gedenke, blieb sie die Antwort schuldig. Sie wusste, dass sie um einen wunderbaren Mann würde trauern müssen. War ihnen etwa entgangen, dass ihr vor zweieinhalb Jahren eine Verrückte den Mann weggenommen hatte? Würde sie ohne ihn weiterleben können? Diesen Akt der Gewalt überleben?
     
    Einen Monat nach ihrer Freilassung verließ Gabrielle de Sarlat ihr Heim in Senlis Richtung Alpen. Sie mietete ein Zimmer im Hôtel des Adrets, unweit vom Hôtel Bellevue, wo sie das letzte Mal mit ihrem Mann abgestiegen war.
    Am Abend schrieb sie an dem schmalen Kiefernholztisch neben ihrem Bett einen Brief:
    Meine lieben Kinder,
    auch wenn man mich in diesem Prozess für unschuldig erklärt und erkannt hat, dass ich einen so wunderbaren Mann, wie Euren Vater Gabriel, den einzigen Mann, den ich je liebte, unmöglich habe töten können, ist es mir umso unerträglicher, ohne ihn weiterzuleben. Bitte versteht meinen Schmerz. Verzeiht mir, dass ich Euch verlasse. Aber ich muss zu ihm.
    Tags darauf wanderte sie hinauf zum Col de l’Aigle und sprang von dem Pfad, auf dem sie zweieinhalb Jahre zuvor ihren Mann in den Abgrund gestoßen hatte, in die Tiefe.

Die Heilung
    » W ie wunderbar, eine hübsche Frau an meinem Bett …«
    Als er diese Worte zum ersten Mal murmelte, glaubte sie, sie hätte sich verhört, und ärgerte sich über sich selbst. Wie konnte sie nur das Gestammel eines Patienten für ein Kompliment halten? Wenn ihr Unbewusstes ihr jetzt wieder einen Streich spielte, war sie reif für den Psychoanalytiker. Ihre Komplexe durften sie keinesfalls auch noch am Arbeiten hindern! Es reichte schon, dass sie sie am Leben hinderten …
    Verstimmt versuchte Stéphanie in den folgenden Stunden, wann immer die Arbeit es zuließ, nachzuvollziehen, was der Kranke in Zimmer 221 tatsächlich gesagt haben könnte. Den Anfang des Satzes –
Wie wunderbar
 – hatte sie wohl richtig verstanden, aber die Fortsetzung? –
eine hübsche Frau …
Hübsch? Kein Mensch hatte Stéphanie je als hübsche Frau bezeichnet. Und zu Recht, wie sie fand.
    Als die junge Krankenschwester das Hôpital de la Salpêtrière an diesem Tag verließ, hatte sie noch keine Antwort gefunden. Nachdenklich ging sie unter einem regenschweren, fast schwarzen Himmel zwischen jäh aufragenden Wohntürmen vor sich hin, an deren Fuß die von mickrigen Akazien gesäumten Avenuen sich leer und öde ausnahmen. Sie bewohnte im Süden von Paris ein Einzimmerapartement, in Chinatown, einem Stadtviertel mit graugrünen Mauern und roten Ladenschildern. In diesen Straßen mit den vielen Asiaten kam sie sich plump vor

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