Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Träumerin von Ostende

Die Träumerin von Ostende

Titel: Die Träumerin von Ostende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
Vom Netzwerk:
jemanden, der keine Ausschweifungen kennt, »anständig« nennen kann. Ihre Komplexe ließen sie enthaltsam leben, sie wagte nichts, mied Feste, Bars und Nachtclubs. Sie mochte hin und wieder für die Dauer eines Films oder eines Romans von einer Liebschaft träumen, doch stets in dem Bewusstsein, dass dies der Phantasie vorbehalten war. Im wirklichen Leben gab es so etwas nicht.
    »Jedenfalls nicht in meinem Leben.«
    Wie ein alter Mensch, der sich mit seinem Ruhestand abgefunden hatte, empfand sie sich selbst als zurückgezogen lebend, außer Reichweite, mit einem Körper, der tot war, oder so gut wie, und jetzt sprach man ihr plötzlich von ihrem Charme und brachte sie aus dem Konzept. Damit hatte sie nicht gerechnet, es kam zu plötzlich, war zu viel.
     
    Am nächsten Morgen, auf dem Weg zur Arbeit, beschloss sie, Karl, wenn er wieder damit anfinge, eine Abfuhr zu erteilen.
    Die Krankenhausroutine war ihr Leben. Sobald sie durch das Portal der wie eine Kaserne bewachten Salpêtrière trat, befand sie sich in einer anderen Welt, einer Stadt in einer Stadt, ihrer Stadt. In dem abgeschlossenen Bereich mit seinen hohen Mauern, der diese Krankenhausstadt schützte, gab es alles: einen Zeitungskiosk, ein Café, eine Kapelle, eine Apotheke, eine Kantine, Sozialdienste, Verwaltungsbüros, Versammlungsräume, darüber hinaus zahlreiche Gebäude für die verschiedenen Krankheiten; in den Parkanlagen Bänke für müde Spaziergänger, hier und da ein Blumenbeet und Vögel, die über den Rasen hüpften; die Jahreszeiten kamen und gingen wie anderswo auch, der Winter brachte seinen Schnee, der Sommer seine Gluthitze; Feiertage kennzeichneten den Wechsel der Jahreszeiten, Weihnachtsbäume, Johannisnächte; Menschen kamen hierher, um geboren zu werden, zu genesen und zu sterben, darunter hin und wieder sogar Berühmtheiten. Ein Mikrokosmos in der Megalopolis. Stéphanie existierte dort nicht nur, sondern erwies sich auch als nützlich. Die Stunden waren dicht gedrängt, angefüllt mit der Pflege der Patienten, Temperaturmessen, Visiten und Gängen zum Stationszimmer: Wozu brauchte sie ein anderes Leben, ein Leben anderswo?
    Das Gefühl, nützlich zu sein, machte sie stolz. Und mit diesem Stolz kompensierte sie, was ihr fehlte. »Ich habe keine Zeit, um mich mit mir zu beschäftigen, ich habe zu viel zu tun«, sagte sie sich immer, kaum wurde sie sich ihrer Einsamkeit bewusst.
    »Guten Tag, Stéphanie«, begrüßte Karl sie lächelnd, obwohl sie gerade erst hereingekommen war und noch kein Wort gesagt hatte.
    »Guten Tag. Heute dürfen Sie endlich Besuch empfangen.«
    »Ich befürchte es.«
    »Warum? Freut Sie das nicht?«
    »Das wird was geben!«
    »Was wollen Sie damit sagen?«
    »Von Ihrer Warte aus wird es wahrscheinlich eher amüsant. Für sie oder mich, weniger.«
    »Wen meinen Sie mit ›sie‹?«
    »Ahnen Sie das nicht?«
    »Nein.«
    »Nun, dann gedulden Sie sich, Sie werden auf Ihre Kosten kommen.«
    Stéphanie beschloss, die Sache auf sich beruhen zu lassen, und wandte sich ihrer Arbeit zu.
    Er grinste.
    Je mehr sie sich an seinem Bett zu schaffen machte, umso breiter wurde sein Grinsen.
    Sie hatte sich zwar geschworen, ihn nichts zu fragen, konnte dann aber nicht mehr an sich halten und platzte heraus:
    »Warum grinsen Sie so?«
    »Eine hübsche Frau kümmert sich um mich …«
    »Was wissen Sie schon? Sie können mich doch gar nicht sehen!«
    »Ich höre Sie und ich rieche Sie.«
    »Wie bitte?«
    »An Ihrer Stimme, an Ihren Bewegungen, an der Luft, die Sie mit ihren Gesten verdrängen, und insbesondere an Ihrem Geruch merke ich, dass Sie eine hübsche Frau sind. Ich weiß es einfach.«
    »Schmeichler! Und wenn ich nun eine Warze auf der Nase habe oder ein Muttermal?«
    »Das würde mich wundern.«
    »Wetten, dass?«
    »In Ordnung: Haben Sie eine Warze auf der Nase?«
    »Nein.«
    »Ein Muttermal?«
    »Auch nicht.«
    »Na also«, schloss er zufrieden darüber, dass er recht hatte.
    Stéphanie lachte auf und verließ das Zimmer.
    Anders als am Tag zuvor, war sie heute in guter Stimmung, hatte ihre Heiterkeit wiedergefunden.
    Am Nachmittag, als sie von einem Zimmer ins andere ging, verstand sie plötzlich, was Karl – zu komisch, dass er sich mit einem K statt mit einem C schrieb – am Morgen gemeint hatte. Im Warteraum beäugten sich sieben junge Frauen, eine prachtvoller als die andere, voller Hass; sie wirkten wie konkurrierende Models bei einem Casting. Nicht eine von ihnen war offiziell mit Karl liiert, bis auf

Weitere Kostenlose Bücher