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Die Träumerin von Ostende

Die Träumerin von Ostende

Titel: Die Träumerin von Ostende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
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Und er meinte sie damit.
    Stéphanie beugte sich über Karl, um in seinem Gesicht zu lesen: Es drückte wohliges Behagen aus, bestätigte gleichsam, was er gesagt hatte; seine Lippen wölbten sich sinnlich; sie hatte fast den Einruck, dass er sie vergnügt ansah, trotz seiner verbundenen Augen.
    Was tun? Sie war außerstande, die Unterhaltung fortzuführen. Sollte sie auf sein Kompliment eingehen? Was würde er entgegnen? Und wohin würde sie das führen?
    Fragen über Fragen, ihr schwirrte der Kopf, sie verließ eilig das Zimmer.
    Draußen auf dem Flur brach sie in Tränen aus.
    Als Marie-Thérèse, eine schwarze Kollegin aus Martinique, Stéphanie am Boden fand, half sie ihr wieder auf, drückte ihr ein Taschentuch in die Hand und nahm sie mit in einen ruhigen kleinen Raum, in dem Verbandmaterial lagerte.
    »Nun sag schon, Kleines, was ist mit dir?«
    Diese unerwartete Fürsorge ließ Stéphanie nur noch heftiger an der rundlichen Schulter ihrer Kollegin schluchzen; und sie hätte endlos weitergeweint, hätte nicht der Vanilleduft von Marie-Thérèses Haut beruhigend auf sie gewirkt, ein Duft, der sie an glückliche Kindertage erinnerte, an Geburtstage bei ihren Großeltern oder an abendliche Joghurtgelage bei ihrer Nachbarin Emma.
    »Also, sag, was bereitet dir solchen Kummer?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Ist er beruflicher oder privater Art?«
    »Beides«, stöhnte Stéphanie und schniefte.
    Sie schnäuzte sich kräftig, als Zeichen, dass sie sich wieder gefangen hatte.
    »Danke, Marie-Thérèse, es geht schon wieder.«
    Auch wenn ihre Augen für den Rest des Tages trocken blieben, ging es ihr nicht wirklich besser, zumal sie nicht verstand, was eigentlich mit ihr los war.
    Im Alter von fünfundzwanzig hatte Stéphanie eine Ausbildung als Krankenschwester absolviert, aber sie wusste nicht um ihren eigenen Wert. Warum? Es mangelte ihr an Selbstvertrauen, ihre Mutter hatte immer nur einen distanzierten und abwertenden Blick für ihre Tochter gehabt. Wie hätte sie sich selbst Bedeutung beimessen können, wenn die Person, die sie zur Welt gebracht hatte und hätte lieben sollen, sie herabsetzte? Léa hielt ihre Tochter tatsächlich weder für hübsch noch für intelligent und hatte sich auch nie gescheut, dies laut zu sagen, wobei sie jedes Mal hinzufügte: »Was wollen Sie, darf ich, nur weil ich Mutter bin, die Dinge etwa nicht beim Namen nennen?« Die Tochter hatte in leicht abgewandelter Form die Meinung ihrer Mutter übernommen. Auch wenn Stéphanie, was die Intelligenz betraf, ihrer Mutter – die kein Diplom besaß und nach wie vor Kleider verkaufte, während sie selbst das Abitur bestanden hatte und einen Pflegeberuf ausübte – längst das Gegenteil bewiesen hatte, so hatte sie sich doch die ästhetischen Vorstellungen der Mutter zu eigen gemacht. Da eine schöne Frau eine schlanke Frau war, mit schmalen Hüften und festen, runden Brüsten, wie Léa, war Stéphanie keine schöne Frau; sie gehörte eher, wie ihre Mutter immer wieder erklärte, in die Kategorie der Dicken. Sie wog zwölf Kilo mehr als sie, war aber nur sieben Zentimeter größer!
    Daher war Stéphanie auch nie auf Léas Vorschläge, »sich zurechtzumachen«, eingegangen, sie wollte nicht noch lächerlicher erscheinen, als sie schon war. Obgleich überzeugt, dass Spitzen, Seide, Zöpfe, Chignons, Locken, Schmuck, Armreifen, Ohrringe oder Ketten an ihr so schockierend aussehen würden wie an einem Transvestiten, wusste sie, dass sie physiologisch gesehen eine Frau war, hielt sich selbst aber nicht für femininer als ein Mann. In der weißen Krankenhauskluft fühlte sie sich wohl, und wenn sie Hose und Kittel zurück in ihren Spind hängte, wurden sie lediglich durch deren schwarze oder marineblaue Entsprechung ersetzt und die Gesundheitssandalen gegen plumpe weiße Basketballschuhe ausgetauscht.
    Was war ihr in Zimmer 221 widerfahren? Freude oder Verzweiflung? Freude, weil man sie für hübsch hielt? Verzweiflung, weil sie das nur für einen Blinden war?
    Ihre Erschütterung – und das begriff sie, als sie unter ihre Bettdecke schlüpfte – hatte in Wirklichkeit vor allem mit dem Schock zu tun: Karl Bauers Worte hatten Stéphanie zurückversetzt auf den Marktplatz der Verführung, dieses weite sonnige Rund, auf dem die Frauen Männern gefielen, sie, die sich davon ausgeschlossen glaubte, im Abseits lebte und beschlossen hatte, weder Blicke noch Liebeserklärungen zu provozieren. Stéphanie war eine anständige junge Frau, wenn man denn

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