Die Träumerin von Ostende
neben den kleinen, zarten Frauen, die wie geschäftige Ameisen ihrer Arbeit nachgingen. Ihre Formen nahmen sich neben den grazilen Gestalten runder aus, als sie waren, und obgleich nicht übermäßig groß, wirkte sie riesig.
Zu Hause konnte sie sich auf keines der abendlichen Programme konzentrieren, die der Fernseher unermüdlich ausspie, und warf die Fernbedienung in die Ecke. Warum, zum Teufel, konnte sie an nichts anderes mehr denken?
»Wie wunderbar, eine hübsche Frau an meinem Bett!« Meine arme Stéphanie, du suchst nach einem Satz, der sich hinter einem anderen verbirgt, weil du dir so den Satz, der dir gefallen hat, noch einmal sagen kannst, aber diesen Satz hat er gar nicht gesagt. So kommst du nicht weiter, du wiederholst dich nur, schmeichelst dir, hätschelst dich.
Daraufhin stopfte sie eine große Ladung Wäsche in die Maschine – was ihr immer half – und begann die »Liegengebliebene« zu bügeln. Da im Radio unaufhörlich Chansons aus ihrer Kindheit gespielt wurden, stellte sie den Ton lauter und machte sich, mit dem Eisen in der Hand, einen Spaß daraus, die bekannten Refrains laut mitzusingen.
Um Mitternacht – sie hatte es auf mehrere gebügelte Stapel gebracht und so viel gesungen, dass sich ihr der Kopf drehte und es ihr vor den Augen flimmerte – ging sie im Glauben, alles vergessen zu haben, beruhigt ins Bett.
Doch als sie am nächsten Tag über die Schwelle von Zimmer 221 trat, zitterte sie.
Die Schönheit dieses Mannes verstörte Stéphanie.
Karl Bauer lag seit einer Woche auf der Intensivstation und tauchte langsam aus einem Schock auf. Er hatte sich bei einem Autounfall eine schwere Wirbelsäulenverletzung zugezogen, die Ärzte bezweifelten, dass er je wieder gesunden würde, wollten sich aber nicht festlegen. Sie stimulierten seine Nerven und versuchten, das genaue Ausmaß seiner Schädigung zu ermitteln.
Obgleich er unter einem Laken lag und ein Verband seine Augen verdeckte, verwirrte Stéphanie alles, was sie von seinem Gesicht oder seinem Körper sah. Angefangen bei seinen Händen, langen Männerhänden, elegant, mit ovalen, fast perlmuttfarbenen Nägeln, Hände, wie geschaffen, um wertvolle Dinge zu halten oder Haare zu liebkosen … Dann seine Farben, seine dunkle Haut, das Braun seiner Körperbehaarung, das seine festen Muskeln dunkler erscheinen ließ, das schimmernde Schwarz seiner Locken. Und seine Lippen, so voll und schön geschwungen, dass sie sie unwiderstehlich anzogen … Vor allem aber seine Nase, scharf geschnitten, gerade, kräftig und so männlich, dass Stéphanie sie nicht ansehen konnte, ohne ein Kribbeln im Unterleib zu verspüren.
Er war großgewachsen, und man hatte aus dem Keller ein Spezialbett für ihn holen müssen. Obgleich er sich nicht bewegen konnte, war Stéphanie von seiner Größe beeindruckt, sie schien ihr wie die Bestätigung seiner starken Männlichkeit.
»Er gefällt mir dermaßen, dass ich nicht mehr klar denken kann. Wenn er hässlich wäre, hätte ich ihn gestern bestimmt nicht falsch verstanden.«
Heute würde sie genau hinhören. Während sie seine Infusionen kontrollierte und seine Tabletten zählte, wachte er auf und spürte, dass jemand im Raum war.
»Sind Sie es?«
»Guten Tag, ich bin Stéphanie.«
Seine Nasenflügel bebten. Da er sie nicht sehen konnte, nahm sie die Gelegenheit wahr und betrachtete deren kurioses Eigenleben.
»Waren Sie nicht schon gestern Morgen hier?«
»Ja.«
»Ich freue mich, dass Sie hier sind, Stéphanie.«
Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.
Stéphanie stand still da, gerührt, dass jemand, der so schwer verletzt war, jemand, der solche Höllenqualen litt, überhaupt das Feingefühl hatte, sich zu bedanken. Dieser Patient war anders als die anderen.
»Vielleicht war es das, was er gestern zu mir gesagt hat«, dachte sie, »etwas Nettes, etwas, worauf ich nicht gefasst war. Ja, so wird es gewesen sein.«
Beruhigt nahm sie das Gespräch wieder auf, redete lebhaft über dies und jenes, über die Therapien, die man bei ihm anwenden wollte, seinen Tagesablauf und dass er ab morgen Besuch empfangen durfte. Nach zehn Minuten Geplauder dachte Stéphanie, sie hätte wieder zu einem normalen Verhalten ihm gegenüber gefunden. Doch als sie ihn dann deutlich vernehmbar sagen hörte: »Wie wunderbar, eine hübsche Frau an meinem Bett …«, erstarrte sie.
Diesmal war sie sicher: Sie hatte richtig verstanden. Nein, sie war nicht verrückt. Es waren dieselben Worte, gestern wie heute.
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