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Die Träumerin von Ostende

Die Träumerin von Ostende

Titel: Die Träumerin von Ostende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
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die große Rothaarige, eine auffallend schöne Frau, die sich vor der Oberschwester mit dem Titel Ex-Ehefrau brüstete und als Erste zu Karl vorgelassen wurde. Die sechs anderen Geliebten zuckten die Schultern, als sie die Rote aufstehen und gehen sahen, und fuhren fort, sich unfreundlich zu mustern. Hatten sie gerade erst voneinander erfahren? Waren sie seine Geliebten in Folge, oder hatte er sie alle gleichzeitig gehabt?
    Stéphanie richtete es so ein, dass sie möglichst oft bei den Damen vorbeikam, ihre Neugier aber blieb ungestillt. Wenn sie aufstanden, um zu Karl zu gehen, verfuhren sie alle nach dem gleichen Schema; kaum waren sie auf dem Flur, streiften sie in Sekundenschnelle ihre üble Laune ab, setzten ein schmerzlich besorgtes Gesicht auf, hatten Tränen in den Augen und ein Taschentuch in der Hand. Was für Heuchlerinnen! Wann übrigens spielten sie? Wenn sie sich in Anwesenheit der anderen beherrschten oder wenn sie sich zitternd ihrem Geliebten näherten? Waren sie jemals aufrichtig?
    Die Letzte betrat Karls Zimmer um sechzehn Uhr und kam eine Minute später schreiend wieder heraus:
    »Er ist tot! Mein Gott, er ist gerade gestorben!«
    Stéphanie stürzte aus dem Schwesternzimmer und eilte an Karls Bett, fühlte seinen Puls, sah auf die Monitore und rief:
    »Beruhigen Sie sich! Er ist eingeschlafen, das ist alles. Die vielen Besuche haben ihn erschöpft. In seinem Zustand …«
    Die Geliebte setzte sich und presste, als könnte sie das beruhigen, die Knie zusammen. Biss in ihren Daumennagel, der lang und rot war, und schimpfte:
    »Diese Schlampen, das haben sie absichtlich getan! Sie haben ihn fertiggemacht, damit nichts für mich bleibt.«
    »Ich bitte Sie, Mademoiselle, offenbar ist Ihnen nicht bewusst, dass Sie es hier mit einem Schwerverletzten zu tun haben. Sie denken nur an sich und Ihre Rivalinnen, das ist unerhört!«
    »Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind? Werden Sie bezahlt, damit Sie sich um ihn kümmern oder damit Sie uns Moralpredigten halten?«
    »Damit ich mich um ihn kümmere. Und deshalb muss ich Sie auch bitten, diesen Raum zu verlassen.«
    »Scheren Sie sich zum Teufel! Ich habe vier Stunden gewartet.«
    »Nun gut. Dann rufe ich eben den Sicherheitsdienst.«
    Die Drohung wirkte, das Supermodel gab klein bei, erhob sich und schwankte schimpfend auf hohen Plateauabsätzen davon.
    Stéphanie rief ihr heimlich »Schnepfe« hinterher, um sich dann sogleich Karl zu widmen. Sie stellte sein Bett höher, schüttelte seine Kopfkissen auf, überprüfte die Tropfinfusion und war alles andere als böse, ihn wieder für sich zu haben.
    »Endlich kann ich in Ruhe arbeiten«, seufzte sie.
    Und nicht einen Moment lang kam ihr in den Sinn, dass sie soeben wie eine eifersüchtige Frau reagiert hatte.
     
    Am nächsten Tag empfing Karl sie mit einem Grinsen.
    »Na, haben Sie sich gestern gut amüsiert?«
    »Was gab es denn so Amüsantes?«
    »Dass diese Frauen, die sich hassen, einander gegenübersitzen und geduldig warten mussten. Ich habe es, offen gesagt, bedauert, dass ich hier war und nicht im Warteraum. Sind sie sich in die Haare geraten?«
    »Nein, aber die Stimmung war eisig. Haben Sie mitbekommen, wie ich die Letzte fortgeschickt habe?«
    »Die Letzte? Nein. Wer kam nach Dora?«
    »Eine Brünette mit Plateauabsätzen.«
    »Samantha? Oh, das tut mir leid, die hätte ich gern gesehen.«
    »Sie konnten nicht.«
    »Was war mit mir?«
    »Sie waren eingeschlafen! Sie dachte, Sie seien gestorben.«
    »Samantha übertreibt immer.«
    »Ich habe mir erlaubt, ihr das zu sagen.«
    Während sich Stéphanie um Karl kümmerte, schossen ihr tausend Fragen durch den Kopf. Mit welcher der sechs Geliebten war er zurzeit zusammen? Gab es eine, die er liebte? Was erwartete er von einer Frau? Wechselte er so schnell von einer zur anderen, weil für ihn nur das Aussehen zählte und sonst nichts? Ging es ihm immer nur um Erotik und nie um eine dauerhafte Beziehung? Ergriff er die Initiative bei den Frauen? Verließ er sich dabei weitgehend auf sein Äußeres, seinen verführerischen Charme? Was für ein Liebhaber war er wohl?
    Als hätte er gespürt, dass sie etwas beschäftigte, rief Karl:
    »Sie kommen mir heute so bedrückt vor!«
    »Ich? Oh, nein.«
    »Oh, doch. Probleme mit Ihrem Mann?«
    »Ich bin nicht verheiratet.«
    »Mit Ihrem Partner?«
    »Da ist kein Partner.«
    »Mit Ihrem Freund?«
    »Ja, genau. Probleme mit meinem Freund!«
    Sie hatte nicht den Mut, einem Mann, der sie für bezaubernd hielt, zu

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