Die Träumerin von Ostende
Patientenschleuse auf und ab und flehte, obgleich sie nicht gläubig war, zum Himmel, er möge sie gelingen lassen. Professor Belfort kam händereibend aus dem Operationstrakt. Er sah zufrieden aus. Für Stéphanie ein gutes Zeichen.
Nach vier Tagen aber verschlechterte sich Karls Zustand. Er fiel während der Nacht ins Koma, und am Morgen des fünften Tages waren sich die Ärzte nicht mehr sicher, ob sie ihn noch würden retten können. Stéphanie versuchte, ihre Verzweiflung zu verbergen, biss die Zähne zusammen und kämpfte mit ihren Kolleginnen gegen den Tod an, der unaufhaltsam um Zimmer 221 schlich.
Am späten Nachmittag musste sie in eine Abteilung am anderen Ende des Krankenhausgeländes gehen.
Der Himmel war frühlingshaft blau, klar und wolkenlos. Frische Luft füllte ihre Lungen. Die Vögel jubilierten, als verkündeten sie eine frohe Nachricht.
Eine Glocke schlug zur halben Stunde.
Stéphanie ertappte sich dabei, dass sie noch immer hoffte. Sie beeilte sich, wollte schnell wieder auf die Intensivstation zurück.
Als sie dort ankam, spürte sie, dass etwas nicht stimmte.
Am Ende des Flurs schlug das Pflegepersonal die Tür zu seinem Zimmer zu und lief geschäftig hin und her.
Sie begann zu rennen und stürzte zu Karl hinein.
Er war soeben gestorben.
Sie lehnte sich gegen die Wand und sank langsam zu Boden. Blieb dort mit gespreizten Beinen sitzen, wortlos, stumm, tränenüberströmt.
Ihre Kollegen warfen ihr einen missbilligenden Blick zu: Ein Profi darf sich nie von seinen Gefühlen überwältigen lassen, andernfalls kann er seinen Beruf nicht mehr ausüben.
Erschüttert fielen ihr plötzlich Karls Worte an ihrem Ohr ein: Das Versprechen!
Sie sprang auf, rannte, sich die Augen trocknend, den Flur entlang, hinunter ins Erdgeschoss, in die Notaufnahme, direkt zu Raphael, der dort mit anderen Sanitätern zusammenstand und rauchte.
»Bist du fertig, hast du Dienstschluss?«
»In zehn Minuten.«
»Dann lass uns zusammen gehen! Gehen wir zu dir.«
Er war so überrascht, dass er nicht gleich reagierte. Sie verstand sein Zögern falsch und insistierte:
»Jetzt oder nie!«
»Dann jetzt!«, rief Raphael und schnippte seine Zigarette fort.
Er nahm sie bei der Hand und brachte sie zurück in den Umkleideraum. Auf dem Weg dorthin verspürte sie das Verlangen, sich zu erklären:
»Du musst verstehen, ich komme zu dir … weil … weil …«
»Ich hab verstanden. Du bist wieder gesund?«
»Ja, genau. Ich bin wieder gesund.«
Eine Stunde nach Karls Tod löste Stéphanie ihr Versprechen ein und gab sich Raphael hin. Sie liebte ihn ungestüm und leidenschaftlich. Nicht einen Augenblick lang kam Raphael auf den Gedanken, sie könnte noch Jungfrau sein. Aber während sie sich von Raphael umarmen ließ und er es war, dem sie ihre Beine öffnete, war es doch Karl, zu dem sie sagte: »Ich liebe dich.«
Miserable Bücher
» I ch, und Romane lesen? Niemals!«
Obgleich er umgeben von Tausenden Büchern lebte, unter denen sich die Bretter bogen, die vom Boden bis zur Decke die Wände seiner düsteren Wohnung strapazierten, empörte er sich, dass man ihn für fähig hielt, seine Zeit mit fiktionaler Literatur zu vergeuden.
»Fakten, nichts als Fakten! Fakten und Reflexion. Solange ich die Realität nicht voll ausgeschöpft habe, räume ich der Irrealität nicht eine Sekunde ein.«
Es kamen nur wenige Leute zu ihm, Maurice Plisson mochte keinen Besuch; wenn aber gelegentlich einer seiner Schüler lebhaftes Interesse für seine Disziplin bekundete, belohnte er ihn am Ende des Schuljahrs mit einem Privileg: Er durfte mit seinem Lehrer eine Stunde lang bei einem Krug Bier und einer Handvoll Erdnüsse am Couchtisch in dessen Wohnzimmer sitzen. Jedes Mal ließ der Auserwählte, eingeschüchtert durch die Räumlichkeiten, mit angezogenen Schultern und zusammengepressten Knien den Blick über die Regale gleiten und sah dort nur Abhandlungen, wissenschaftliche Werke, Biographien und Enzyklopädien, aber kein einziges literarisches Werk.
»Sie halten nichts von Romanen, Monsieur Plisson?«
»Genauso gut könnten Sie mich fragen, was ich von Lügen halte.«
»So wenig?«
»Hören Sie, mein junger Freund, seit ich meine Begeisterung für Geschichte, Geographie und die Jurisprudenz entdeckt habe, lerne ich noch immer dazu, obgleich ich seit fünfundvierzig Jahren unermüdlich lese, und zwar wöchentlich mehrere Bücher. Was könnten Romanschreiber mir schon vermitteln, Leute, die der Phantasie den Vorrang
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