Die Träumerin von Ostende
geben? Nein, wirklich, sagen Sie mir: was? Wenn sie etwas Wahres erzählen, dann kenne ich es bereits; wenn sie etwas erdichten, interessiert es mich nicht.«
»Aber die Literatur …«
»Ich möchte die Arbeit meiner Kollegen nicht schmälern oder gar Ihren Wissensdurst bremsen, zumal Sie ein brillanter Schüler sind und das Zeug für die École normale supérieure [1] haben, doch wenn ich denn die Freiheit hätte, würde ich am liebsten sagen: Hören Sie auf, uns mit Literatur zu langweilen! Belanglos und nichtig … Romane lesen ist etwas für alleinstehende Frauen – wenngleich Stricken und Sticken eine nützlichere Betätigung wären. Wer Romane schreibt, wendet sich an Frauen, die nichts zu tun haben, an niemanden sonst, und sucht damit nach Bestätigung! War es nicht Paul Valéry, ein respektabler Intellektueller, der sich weigerte, einen Text zu schreiben, der mit dem Satz begann: ›Die Marquise verließ um fünf Uhr das Haus‹! Wie recht er hatte! So wie er sich weigerte, ihn zu schreiben, weigere ich mich, ihn zu lesen: ›Die Marquise verließ um fünf Uhr das Haus‹! Zunächst einmal, welche Marquise? Wo wohnt sie? In welcher Zeit? Wer beweist mir, dass es genau fünf Uhr war und nicht fünf Uhr zehn oder fünf Uhr dreißig? Und was, im Übrigen, würde es ändern, wenn es zehn Uhr morgens oder zehn Uhr abends wäre, zumal alles erfunden ist. Wie Sie sehen, sind Romane eine absolut willkürliche Angelegenheit, sie können alles Mögliche behaupten. Ich bin ein ernsthafter Mensch. Mit solch einem Unsinn habe ich weder etwas zu tun, noch möchte ich Zeit oder Energie darauf verwenden.«
Er spürte, dass seine Argumente unschlagbar waren, und sie hatten alle die gleiche Wirkung, dieses Jahr wie in all den Jahren zuvor: Sein Gesprächspartner erwiderte nichts. Maurice Plisson hatte gewonnen.
Hätte er die Gedanken seines Schülers lesen können, wäre ihm klargeworden, dass er dessen Schweigen nicht als Sieg deuten konnte. Bestürzt über den keinen Widerspruch duldenden Ton und die, wie er fand, für einen intelligenten Menschen zu engstirnigen Ansichten, fragte sich der junge Mann, warum sich sein Lehrer von allem Imaginären distanzierte und warum er der Kunst und der Emotion misstraute. Am meisten aber überraschte ihn dessen Verachtung für alleinstehende Frauen, zumal sie von einem »alleinstehenden Mann« kam. Denn alle im Lycée du Parc wussten, dass Monsieur Plisson »ein eingefleischter Junggeselle« war, den man noch nie in Begleitung einer Frau gesehen hatte.
Maurice Plisson schlug vor, eine weitere Flasche Bier zu öffnen, womit er zu verstehen gab, dass er das Gespräch als beendet betrachtete. Der Schüler verstand, bedankte sich stotternd und folgte seinem Lehrer zur Tür.
»Schöne Ferien, junger Mann. Und vergessen Sie nicht, es wäre gut, wenn Sie sich bereits im August mit der Wiederholung im Fach Alte Geschichte befassen würden, zumal Sie im kommenden Schuljahr kaum Zeit dazu finden werden vor dem Auswahlverfahren.«
»Ja, Monsieur. Griechische und römische Geschichte vom ersten August an, ich werde Ihren Rat befolgen. Meine Eltern werden für mich wohl oder übel einen Koffer voller Bücher mit in die Ferien nehmen müssen.«
»Wohin fahren Sie?«
»In die Provence, wir haben dort ein Landhaus. Und Sie?«
Auch wenn der Schüler diese Frage nur aus reiner Höflichkeit gestellt hatte, so kam sie doch überraschend für Maurice Plisson. Er kniff die Augen zusammen und blickte hilfesuchend in die Ferne.
»Nun … ja … in die Ardèche, dieses Jahr.«
»Ich liebe die Ardèche. Und wohin da?«
»Hm … nun … ja, ich weiß noch nicht, eine … eine Freundin hat ein Haus gemietet. Für gewöhnlich machen wir eine organisierte Reise, aber diesen Sommer, diesen Sommer sind wir in der Ardèche. Sie hat entschieden und die Sache in die Hand genommen … tja, und ich habe den Namen des Dorfes vergessen.«
Der Schüler nahm die Verwirrung seines Lehrers wohlwollend zur Kenntnis, schüttelte ihm die Hand und lief, immer vier Stufen auf einmal, die Treppe hinab. Er hatte es eilig, seinen Kameraden die Neuigkeit des Tages zu überbringen: Plisson hatte eine Geliebte! Sämtliche Klatschmäuler hatten sich in ihm getäuscht, diejenigen, die ihn für homosexuell hielten, diejenigen, die behaupteten, er hätte es mit Prostituierten, und diejenigen, die glaubten, er sei noch Jungfrau … In Plissons Leben aber gab es, obgleich er hässlich war, tatsächlich seit Jahren eine
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