Die Treue Des Highlanders
schluckte trocken und schlug mit zitternden Fingern das Tuch von Junes Körper. Es war trocken und warm, obwohl es nur wenige Minuten auf Junes Haut gelegen hatte.
»Siehst du die Narbe dort? Rechts unten.«
Duncan beugte sich vor und erkannte eine kaum fingerlange, leicht schwulstige Narbe am rechten Unterbauch. »Wahrscheinlich hat sie sich da einmal verletzt«, stellte er ungerührt fest. Sein eigener Körper war von Narben übersät, warum machte Anna wegen so einer kleinen Verletzung solch Aufhebens?
»Duncan, du verstehst nicht!« Annas Stimme zitterte vor Aufregung. »Die Narbe stammt nicht von einer Verletzung! Sag, Duncan, kennst du Menschen, die unter heftigen Bauchschmerzen, besonders auf der rechten Seite, gelitten haben und daran gestorben sind?«
Duncan nickte. »Ja, das kommt sogar recht häufig vor, oft sogar bei Kindern. Sie leiden schreckliche Schmerzen, übergeben sich und sterben schließlich. Ich vermute, sie haben etwas Schlechtes oder Giftiges gegessen.«
»Das ist es nicht!« Annas Schrei hallte wie ein Schuss durch den Raum. »Ich weiß nicht sehr viel darüber, nur das, was mir der Arzt erklärt hat, als man mir vor elf Jahren den Blinddarm entfernt hat.«
»Blinddarm?«, unterbrach Duncan und runzelte die Stirn. »Davon habe ich noch nie etwas gehört.«
»Der Blinddarm ist ein Stück des Darmes, der eigentlich völlig überflüssig ist«, erklärte Anna. »Darum heißt er auch Blinddarm. Leider entzündet sich ein kleines Stück am Ende des Blinddarms recht häufig, man nennt den Teil Wurmfortsatz. Manchmal geht es wieder vorbei, aber oft bricht Eiter aus der Entzündung und ergießt sich in den Bauchraum. Das bedeutet dann den Tod des Patienten.«
»Und warum erzählst du mir das?«
»Weil man in meiner Zeit, ach nein, eigentlich schon hundert Jahre früher, Möglichkeiten hat, diese Leute zu heilen. Man schneidet den entzündeten Blinddarm einfach heraus.«
»Du meinst, man schlitzt den Bauch auf?«
»Ja, aber man macht es unter Narkose. Was das ist, erkläre ich dir ein anderes Mal«, beugte sie Duncans nächster Frage vor. »Auf jeden Fall ist an June diese Operation durchgeführt worden, und zwar vor gar nicht so langer Zeit, denn die Narbe, die ich von meiner Operation habe, ist elf Jahre alt und beinahe doppelt so lang wie die von June. Die Medizin hat große Fortschritte gemacht, heutzutage ist nur noch so ein kleiner Schnitt notwendig.«
Duncans Augen weiteten sich, als er zu verstehen begann. »Das würde bedeuten, dass June ...«
»Ebenfalls aus der Zukunft kommt, ja!« Anna fuhr sich über die schweißnasse Stirn. »Sie muss wohl irgendwie in den See geraten sein, denn ich hörte, dass man sie nass und verwirrt im Dorf gefunden und dann auf die Burg gebracht hat. Kein Wunder, dass June kaum gesprochen hat und manchmal etwas seltsam wirkt. Duncan, sie war noch ein Kind! Kaum älter als elf oder vielleicht zwölf Jahre, als sie in die Vergangenheit versetzt wurde!«
Fest schlossen sich Duncans Arme um Annas Schultern. Er verstand, was in ihr vorging. Anna hatte jemanden gefunden, der das gleiche Schicksal wie sie erlitten hatte, aber man musste kein Arzt sein, um zu erkennen, dass June noch in dieser Nacht sterben würde. »Es tut mir so leid«, flüsterte er und fühlte eine tiefe Traurigkeit in sich, weil er weder Anna noch June helfen konnte.
Anna nahm Junes kleine Hand in die ihre und streichelte sie sanft. »Wach bitte auf! Nur für einen Augenblick und sag mir, was du erlebt hast.«
Aber die Schwingen des Todes hatten die kleine Seele schon erreicht. June blieb in tiefer Bewusstlosigkeit, bis sie nach zwei Stunden für immer einschlief. Anna hielt sie bis zum Schluss in ihren Armen.
Junes Schicksal ließ Anna nicht los. Immer wieder dachte sie daran, was das Kind gedacht und gefühlt haben musste, als es in die Vergangenheit katapultiert worden war. Vielleicht hatte June sogar versucht, mit jemandem darüber zu sprechen, und hatte schnell feststellen müssen, dass ihr niemand Glauben schenkte. Bestimmt hatte June Eltern gehabt, vielleicht sogar Geschwister und sicher viele Freunde. Wahrscheinlich stammte sie aus der Umgebung des Sees, vielleicht sogar aus dem Dorf Glenmalloch. Anna konnte sich das Leid der Eltern vorstellen, als das Mädchen von einem Tag auf den anderen verschwand. Die Akte war als eine von vielen, die es über vermisste Kinder gab, in einem Archiv verschwunden, und die Eltern hatten sich damit abgefunden, dass ihre kleine Tochter das Opfer eines
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