Die Trinity Verschwörung
Spaziergang, bis die Uhren zurückgestellt, die Tage wieder kürzer würden und er das Auto nehmen müsste. Unter einer dicken Lands’ End Fleecejacke trug er noch immer die grüne Pflegertracht, weil er lieber zu Hause statt in der unpersönlichen Umgebung des Mount Vernon Hospital unter die Dusche ging.
Ein dreiundvierzig Jahre alter Krebspatient war vor drei Stunden auf seiner Station gestorben, aber Somers dachte nicht an den Mann, auch nicht an die trauernden Angehörigen des Patienten oder die Medizinstudentin, die geweint hatte, als sie gleich nach dem Mittagessen Zeugin geworden war, wie die Mutter des Verstorbenen auf dem Parkplatz wie ein Häuflein Elend in Tränen ausgebrochen war. Er dachte an den Karton Wolf Blass Chardonnay, dem er heute Abend den Rest geben würde, und an das Sortiment mikrowellentauglicher Fertiggerichte, die sich in seinem Tiefkühlfach stapelten. Auf was hatte er heute Abend Lust? Ein Curry? Fischpastete? Wenn er ehrlich war – und das würde er jedem antworten, der ihn fragte, auch Kollegen, die ganz anders empfanden –, konnte er die Toten auf der Station längst nicht mehr auseinanderhalten. Man verlor den Einzelfall aus dem Blick, wer an was gelitten, welcher Angehörige zu welchem Patienten gehört hatte. Aber vielleicht hatte er auch nur die Schnauze voll von dem Job. Vielleicht hatte Calvin Somers genug von dem ganzen Siechtum.
Er wollte gerade die Hauptstraße zum Heath überqueren, als er hinter sich auf dem nordwestlichen Parkplatz ein Geräusch hörte, und als er sich umdrehte, sah er einen Mann aus einem dunkelblauen C-Klasse-Mercedes mit dunkel getönten Fenstern steigen. Einen Augenblick lang spielte Somers mit dem Gedanken, die Beine in die Hand zu nehmen. Wie ein Stromstoß war ihm die Angst in die Brust geschossen. Aber davonlaufen war keine gute Idee. Einem Mann wie Alexander Grek entkam man nicht. Grek würde einen finden. Grek wusste, wo man wohnte. Calvin Somers tat das, was er immer tat, wenn er sich unsicher fühlte. Somers fing Streit an.
» Folgen Sie mir etwa?«
» Mr. Somers?«
» Sie wissen doch, wer ich bin. Warum sind Sie hergekommen? Was wollen Sie? Ich dachte, unser Geschäft wäre abgeschlossen. Sie haben mir versichert, dass unser Geschäft abgeschloss–«
Grek fiel ihm ins Wort. » Bitte bleiben Sie stehen, Mr. Somers.« Er hatte eine tiefe Stimme, beinahe einen Bariton, mit einer besonderen Melodie, einem beängstigenden Charme. Er trug einen dunkelgrauen Anzug, ein frisch gebügeltes weißes Hemd mit Button-Down-Kragen, dazu eine blaue Krawatte.
» Ich würde Sie gerne ein Stück begleiten«, sagte er. Grek sprach ein tadelloses, leicht gestelztes Englisch, aber es war nur Firnis über nackter Erbarmungslosigkeit. » Sie sind auf dem Heimweg, vermute ich. Nehmen Sie immer diesen Weg?«
Wieder spürte Somers die Angst, die elektrische Ladung in der Brust, und wusste, dass man ihm auf die Schliche gekommen war. Warum hätte Grek sonst herkommen sollen? Sie waren hinter die Sache mit dem Professor und Charlotte Berg gekommen. Warum war er so gierig gewesen? Der FSB hatte ihm zwanzig Riesen für die Crane-Geschichte bezahlt, für Douglas Hendersons Märchenstunde im St. Mary’s Hospital. Eine Bedingung war an das Geschäft geknüpft gewesen: dass er niemals wieder und mit keiner Menschenseele über Edward Anthony Crane redete. Aber inzwischen hatte er sich schon zweimal für dieselbe Information bezahlen lassen; er hatte es einfach nicht lassen können. Und jetzt war Alexander Grek gekommen, um ihn nach dem Grund zu fragen.
» Sie verfolgen mich«, sagte er, aber ihm versagte die Stimme, dreimal stolperte er über das Wort › verfolgen‹.
» Nein, nein«, erwiderte Grek und lächelte wie ein guter Freund. » Wir haben nur noch zwei Fragen, auf die wir gerne eine Antwort von Ihnen hätten.« Er hielt die Hand in die Höhe, zwei Finger gespreizt wie zum V für Victory. » Zwei.«
Somers öffnete den Reißverschluss der Fleecejacke. Ihm war warm geworden.
» Gehen wir doch ein paar Schritte beim Reden«, schlug der Russe vor, und Somers war einverstanden, nicht zuletzt, weil er nicht von seinen Kollegen zusammen mit Grek gesehen werden wollte. Sie überquerten die Straße und folgten einem schmalen überwachsenen Pfad in den Wald. Sie mussten hintereinander gehen, und Somers ging schnell, wollte möglichst rasch offenes Gelände erreichen. Grek blieb nie weiter als drei Meter zurück, allerdings weitgehend lautlos, so sanft
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