Die Trinity Verschwörung
loyaler und engagierter Diener der Krone zu sein, und dabei ein Staatsgeheimnis nach dem anderen an den NKWD verraten. Und dann, nachdem er Moskau längst davon überzeugt hatte, dass sein Herz Mütterchen Russland gehörte, hatte er eiskalt die Seiten gewechselt. In beiden Positionen spiegelte sich ein und dieselbe Ideologie: Edward Crane hatte kein Vaterland. Edward Crane hatte nur sich selbst.
Aus dieser Perspektive betrachtet erschien es Gaddis absolut sinnvoll, dass Crane es vorgezogen hatte, die Geschichte ATTILAS mittels einer Tarnfigur zu erzählen; es wäre gegen seine Natur gewesen, sein wahres Ich zu offenbaren. Ein Spion brauchte den Schutz einer Tarnexistenz, eines Pseudonyms. Und ganz nebenbei dürfte Crane Spaß an der intellektuellen Herausforderung gefunden haben, Gaddis an der Nase herumzuführen; es war ihm zweifellos eine besondere Befriedigung gewesen, einen sogenannten Vollakademiker zu übertölpeln. Wann hätte er sein Pseudonym aufgedeckt? Oder wäre er als Thomas Neame in den Tod gegangen, hätte sein letztes Geheimnis mit ins Grab genommen? Höchstwahrscheinlich. Warum hätte er mit der Gewohnheit eines ganzen Lebens brechen sollen?
» EISBÄR sieht ganz schön fertig aus«, sagte Des, der Gaddis von Meisners Praxis aus folgte. Meisner hatte sich bereit erklärt, sich abends um sieben mit Gaddis in einem Café in der Nähe seiner Kreuzberger Wohnung zu treffen. » Wer immer dieser Edward Crane sein mag, er hat unserem Jungen gründlich die Stimmung verhagelt.«
Keine zweihundert Meter entfernt hatte Nicolai Doronin seinen Beobachtungsposten vor Meisners Praxis bezogen, aber er schaute kaum hin, als Gaddis zur Haustür herauskam, weil er den etwa eins fünfundachtzig großen Mann im Cordjackett mit der ledernen Aktentasche irrtümlicherweise für einen Mieter einer der Luxuswohnungen im vierten oder fünften Stock hielt. Doronin achtete auch nicht auf Des, der an der Ecke Schönhauser Allee aus dem mitternachtsblauen Audi A4 stieg, um Gaddis in die U-Bahn-Station Eberswalder Straße zu folgen. Doronin hatte ausschließlich an Benedict Meisner Interesse. Er observierte den Arzt seit achtundvierzig Stunden, wusste inzwischen, dass der Mann allein lebte, hatte Informationen über seinen Tagesablauf gesammelt und versuchte einzuschätzen, wie kräftig der Mann war. Summa summarum war Doronin zu dem Schluss gekommen, dass sich eine ähnliche Strategie anbot wie im Fall von Charlotte Berg. So wie Alexander Grek in ihr Büro eingebrochen war, beabsichtigte Doronin, sich Zutritt zu Meisners Wohnung zu verschaffen, der Flasche Wasser auf seinem Nachttisch 10 mg Natriumfluoracetat hinzuzufügen und mit dem nächsten Linienflug von Tegel aus nach London zurückzufliegen.
Doronin hatte die Ausführung des Plans frühestens für den nächsten Tag vorgesehen, doch dann bot sich ihm unerwartet eine günstige Gelegenheit. Er war Meisner zur Reichenberger Straße gefolgt und hatte draußen eine Stunde gewartet, bis der Doktor um zehn vor sieben wieder herausgekommen war, frisch angekleidet und den Spiegel unter den Arm geklemmt. Ganz offensichtlich wollte er irgendwo zu Abend essen. Doronin heftete sich ihm natürlich an die Fersen, folgte ihm durch die Liegnitzer Straße bis zu seinem Lieblingscafé, das nur ein paar Hundert Meter entfernt am Paul-Lincke-Ufer lag. Meisner setzte sich draußen an einen der Tische, studierte die Speisekarte und bestellte sich ein Glas Bier. Damit hatte er Doronin ein Zeitfenster gegeben. Und weil der Russe so schnell wie möglich zurück nach London wollte, um wenigstens einen Teil des Wochenendes mit seinem kleinen Sohn verbringen zu können, beschloss er, die Operation Meisner schon heute Abend durchzuführen. Dann war er morgen zum Mittagessen wieder in Kensington.
Und so verpasste Doronin den eins fünfundachtzig großen Mann mit der Cordjacke und der ledernen Aktentasche, der in der Liegnitzer Straße aus einem Taxi stieg. Drei Minuten, nachdem Doronin sich auf den Weg zurück zu Meisners Wohnung gemacht hatte, fuhr Sam Gaddis im Taxi vor, erblickte Meisner und setzte sich zu ihm an den Tisch.
Der britische Geheimdienst dagegen war auf der Höhe der Geschehnisse. Katie und Ralph, die wussten, dass Gaddis und Meisner in dem Café verabredet waren, hatten sich auf der Terrasse in Position gebracht, zwei riesige Schüsseln Zwiebelsuppe bestellt, hielten zur Tarnung von Zeit zu Zeit Händchen und warteten auf EISBÄRS Eintreffen. Am anderen Ende der Straße saß Tanya
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