Die Trolle
Hilfe, denn die Zofe war am gestrigen Tage abgeholt worden, und nun brachten Soldaten Viçinia ihr Essen, Männer mit ausdruckslosen Gesichtern, die stets zu zweit auftauchten und wachsam blieben und damit jeden Gedanken daran, an ihnen vorbeizukommen, im Keim erstickten.
So lag sie nun eine weitere Nacht in ihrem Bett und lauschte den Geräuschen der Burg, während sie im Geiste immer wieder die Sorgen umherwälzte, für die sie einfach keine Lösung finden konnte. Wenn wir nicht entkommen können, dann muss ich auf Zorpads Angebot eingehen und die anderen ihrem Schicksal überlassen. Ihr Geister, was bürdet ihr mir auf?, fragte sie sich verzweifelt, doch allmählich wuchs der Entschluss in ihr und reifte zu einem Plan heran.
Im Morgengrauen würde sie nach Zorpad verlangen und ihm mitteilen, dass sie bereit war, Ionna sein Angebot zu überbringen. Zumindest würde das den Wlachaken im Mardew und den Geiseln in der Burg Zeit erkaufen, während Zorpad auf eine Antwort wartete. Zeit, die Ionna und die restlichen Anführer der Rebellen dringend benötigten. Ich muss meine Mitgefangenen und mein Gewissen verraten, damit ich mein Volk nicht verrate. So nehmen uns die Masriden alles, Freiheit, Land, Familie, Ehre. Liebe. Und sie lassen nur bittere Asche auf unseren Zungen zurück.
Nachdem sie zu dieser quälenden Entscheidung gelangt war, fand ihr Geist ein wenig Ruhe, und ihr Körper forderte den Schlaf ein, den er seit langem vermisste. Dennoch blieb ihr Schlummer flach und voller dunkler Träume von Krieg und Blutvergießen, von hoffnungslosen Schlachten und gebrochenen Bündnissen, bis sie von einem schallenden Hornsignal geweckt wurde und im Bett hochfuhr.
Was ist geschehen? Gibt es Krieg?, dachte sie schlaftrunken, bis ihr Geist sich aus den wirren Träumen befreit hatte und ihr wieder bewusst wurde, wo sie sich befand. Verwirrt lief sie zum Fenster, entfernte das Pergament und spähte durch die schmalen Schlitze der vernagelten Läden hinaus. Heute Nacht schien der Himmel dunkel zu sein, denn sie konnte kaum den Baum im Hof erkennen, aber dennoch war sie sicher, dass dort keine Wache stand. Aufregung durchzuckte ihren Körper und beschleunigte ihren Atem. Vielleicht war dies die Gelegenheit, auf die sie gewartet hatte! Womöglich hatten die Geister ihren stummen Schrei nach Hilfe gehört und beantwortet.
Zu ihrem Erstaunen erklang plötzlich ein Ruf, hallte zwischen den dicken Mauern einher, ein Ruf, der sie traf wie ein Schock.
»Willkommen in meinem Heim, Sten cal Dabrân!«, erschallte Zorpads laute Stimme. Hektisch sah sich Viçinia um, und ihr Blick fiel auf die Truhe mit ihren Kleidern. Mit beiden Armen hob sie die schwere, metallbeschlagene Holzkiste an und stemmte sie sich mit einem Ruck auf die Schulter. Dann schleuderte sie die Truhe mit aller Kraft gegen das Fenster. Mit einem lauten Krachen prallte die Eichentruhe gegen die Fensterläden und brach diese auf, bevor sie polternd in den Hof fiel. Gerade als Viçinia durch die Öffnung klettern wollte, flog die Tür zu ihren Gemächern auf, und zwei Soldaten stürmten mit gezogenen Dolchen herein.
»Weg vom Fenster!«, befahl der vorderste, ein junger Szarke mit einer gezackten Narbe, die von der Nase bis über die linke Wange lief. Wild sah sich Viçinia nach einer geeigneten Waffe um und ergriff in Ermangelung einer solchen das hölzerne Bruchstück des Fensterladens.
Vom Hof her erklangen Kampfgeräusche, Stahl schlug auf Stahl, und plötzlich erschallte der alte Kriegsschrei der Rebellen in Zorpads eigener Feste: »Tirea! Für Tirea!«
Was immer da auch vor sich ging, Viçinia war wild entschlossen, es herauszufinden und diese Möglichkeit zur Flucht zu nutzen.
»Weg vom Fenster«, schrie der Narbige wieder, während sein Begleiter einen Bogen schlug und Viçinia so von der anderen Seite bedrohte. Gegen zwei gerüstete Krieger hatte sie im Nachthemd und nur mit einem spitzen Stück Holz bewaffnet wenig Aussicht auf Erfolg, also schleuderte Viçinia ihre behelfsmäßige Waffe auf den nächsten Soldaten und sprang dann auf das Fensterbrett. Bevor sie jedoch den Sprung in die Freiheit machen konnte, wurde sie von dem zweiten Soldaten, der sich ihr genähert hatte, an ihrem langen Schlafgewand gepackt und zurückgerissen. Noch während sie in das Gemach stürzte, hörte sie von draußen einen Ruf, der Zorpads Worte zu bestätigen schien: »Zu Sten! Zu Sten!«
Unsanft prallte die Wlachakin auf den harten Steinboden, doch die Schmerzen gingen im
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