Die Trolle
Bewunderung, doch die beiden Freunde, die gemeinsam zahllose Gefechte überstanden hatten, ignorierten die Geschosse einfach, denn ihr Boot musste aus dem Hafen gelangen, bevor Zorpads Soldaten die Kette hochziehen konnten, die ihrer Flucht ein vorzeitiges Ende bereiten würde. Durch den Regen und die Dunkelheit gaben sie ein schwer zu treffendes Ziel ab, und Viçinia glaubte sie schon in Sicherheit, als Natiole plötzlich mit einem Schrei herumwirbelte und in das Boot stürzte. Fluchend stemmte sich Sten wieder in die Stange und schrie: »Jemand muss helfen!«
Auf Händen und Knien kroch Viçinia durch den Kahn auf Natiole zu, während der kleine Wlachake sich den Staken griff und Sten zur Hilfe eilte.
Mit dem ersten Blick auf den gestürzten Natiole erkannte Viçinia, dass seine Verwundung ernst war. Ein dicker, dunkel gefiederter Bolzen steckte in seiner Brust, und er war halb auf die Seite gesunken. Sein Atem ging schnell und flach, und sein Gesicht wirkte kreideweiß in der Dunkelheit.
»Es … es hat mich erwischt«, keuchte ihr alter Freund unter Schmerzen.
»Ruhig, nicht sprechen«, flüsterte Viçinia sanft und schob den Fuß eines Trolls beiseite, der ihr im Weg war. Viçinia hatte oft genug in Désa dem Heiler Cartareu bei der Arbeit geholfen und Verwundete versorgt, und nun tastete sie Natioles Wunde vorsichtig ab. Blut quoll neben dem Bolzen hervor, doch der kalte Regen wusch es sofort von Natioles Brust, die sich ruckartig hob und senkte.
»Sag ihm … sag ihm, dass er es zu Ende bringen soll«, bat der Wlachake und packte Viçinia an der Schulter. Seine Finger gruben sich schmerzhaft in ihre Haut, doch sie kümmerte es nicht, als ihre Tränen sich in den Regen auf ihren Wangen mischten.
»Das kannst du ihm selbst sagen«, versicherte sie Natiole, doch der Krieger lachte nur leise, was ihn gequält aufstöhnen ließ.
»Wie kann … deine Schwester dich zu Verhandlungen schicken … kleines Mädchen«, fragte der Sterbende flüsternd, »wenn du so schlecht lügst!«
Ein trauriges Lächeln stahl sich auf Viçinias Lippen, als sie nickte und den Kopf des Wlachaken in ihren Schoß legte. Mit einem Mal kauerte Flores neben ihr und sah schweigend auf den verwundeten Wlachaken, bevor sie das Gesicht vor Zorn verzog und die Faust mit aller Kraft gegen die Planken des Bootes schlug.
»Dein Bruder liebt dich, du verflixte, sture …!«, flüsterte Natiole und wurde dann von einem Hustenanfall geschüttelt, der Blut auf seine Lippen trieb.
»Nati«, stöhnte Flores, »Nati, verlass mich nicht!«
Der Lärm und die Schreie um sie herum schienen leiser und leiser zu werden und schließlich zu verstummen, bis Viçinia nur noch Natiole, Flores und sich selbst wahrnahm, die wie auf einer Insel der Stille durch die kalte Nacht trieben.
»Er muss … weiterkämpfen«, flüsterte Natiole mit brechender Stimme. »Versprich mir, dass ihr … nicht aufgebt.«
Trauer erstickte ihre Stimme, sodass Viçinia nicht mehr tun konnte, als zu nicken, wobei Tränen sich von ihren Wimpern lösten und auf Natioles Gesicht fielen.
»Es … darf nicht … umsonst … gewesen sein«, fuhr der Krieger fort, dessen Stimme jetzt kaum noch zu verstehen war. »All das Leid …«
Wieder schüttelte er sich unter einem neuen Hustenkrampf. Seine dunklen Augen wanderten zu den tief hängenden Wolken, und sein Blick glitt in unbekannte Ferne, schien schon in die nächste Welt zu schauen, doch dann kehrte er noch einmal zurück und fixierte Flores mit seinen dunklen Augen: »Hass ihn nicht, Schwester. Er braucht dich jetzt. Du bist …«
Diesmal beendete Natiole den Satz nicht. Ein letzter Schauer lief durch seinen Körper, dann lag der Wlachake still und friedlich da, während der strömende Regen ihm das Blut vom Leib wusch.
»Nein!«, heulte Flores gequält auf, legte den Kopf in den Nacken und schrie ihre Trauer und ihren Schmerz stumm in die kalte, unbarmherzige Dunkelheit.
Währenddessen saß Viçinia mit Natioles Kopf in ihrem Schoß wie betäubt da und streichelte sein nasses Haar. Er ist tot, dachte sie benommen, ihr Geister, es ist, als stürbe ein Teil von uns allen.
Aus ihren tränennassen Augen warf sie einen Blick zu Sten, der im Bug des Kahns stand und mit aller Kraft gegen die Strömung ankämpfte, um das Boot aus dem Hafenbecken zu manövrieren. Offensichtlich hatte der junge Krieger nichts von Natioles Tod mitbekommen, seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Staken und den beiden Türmen, welche die Hafenausfahrt
Weitere Kostenlose Bücher