Die Trüffelgöttinnen (German Edition)
– versprochen!
Schokoladentafel wieder sorgfältig verschließen, in das am schwersten zu erreichende Schrankfach legen.
Setzen.
Nachdem das winzige Stückchen im Mund geschmolzen war, erneuter Gang in die Küche, um nachzusehen, ob der Herd oder das Bügeleisen oder irgendetwas anderes als Ausrede Taugliches auch wirklich ausgeschaltet war.
Zweites Stückchen: Na ja, nur dieses eine noch!
Schokoladentafel wieder und noch fester verschließen, in ein noch schwerer erreichbares Schrankfach schieben.
Setzen.
Genießen.
Aufstehen, drittes Stückchen: Mein Gott, was sind schon drei winzige Stückchen Schokolade! Und so weiter.
Und schließlich unvermeidlich Stückchen Nr. 32: Aber nächstes Mal esse ich wirklich nur eines – versprochen!
Diese Qualen waren jetzt ein für alle Mal vorbei – sie war in einem Schlaraffenland angekommen, das sie nie mehr zu verlassen gedachte. Gummibärchen, Schokoladenkekse, Kartoffelchips, wolkenweiche Marshmallows – all diese Köstlichkeiten brauchte sie jetzt im Supermarkt nicht mehr wie ein hungriger Hund an zu kurzer Leine zu umkreisen. Sie konnte das alles jetzt vor sich auftürmen und ohne schlechtes Gewissen in sich hineinstopfen. Und sie würde dabei sogar noch schöner werden!
Sie fragte sich, wie sie die ganze Zeit so blind hatte sein können, diese an Unterernährung erinnernden mager gehungerten Körper schön und erstrebenswert zu finden.
Sie würde ab jetzt nach Herzenslust schlemmen, und ihre Taille würde sich nach und nach an die ihres neuen Vorbildes, die Venus von Milo, erinnern und daran, wie ein richtiger Frauenkörper auszusehen hatte.
Ihre Hüften würden von weichen Hügeln gekrönt sein, die willig nachgäben, wenn ein Liebhaber zärtlich seine Finger darüber wandern ließ.
Die Oberschenkel würden endlich nicht mehr aussehen wie die abgezehrten Beine von Batterielegehennen, sie würden so saftig und rund und appetitlich wirken, wie Glamour es in einem der Videos beschrieben hatte.
Melanie ließ sich im Wohnzimmer in einen der Sessel fallen, rekelte sich genüsslich in den weichen Polstern und seufzte. So gut hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. Wenn sie es richtig bedachte, hatte sie sich eigentlich noch nie so gut gefühlt.
Entgegen ihrem Plan, ihre Mutter mitten in der Nacht aus dem Bett zu klingeln, beschloss sie, jetzt sofort anzurufen. Erstens war sie doch ziemlich neugierig, was ihre verrückte Mutter wieder angestellt haben mochte, und zweitens konnte sie es kaum abwarten aufzuzählen, was sie alles eingekauft hatte, und zu berichten, was sich hier in New York sonst noch an Unglaublichem tat.
Sie nahm das Telefon von dem niedrigen Rauchglastischchen und wählte die Nummer, die sie inzwischen schon auswendig kannte.
* * *
„ Endlich! Ach Kind!“
Melanies Mutter stieß diese Worte aus wie ein Schiffbrüchiger, der nach vier Tagen auf stürmischer See kurz vor dem Verdursten endlich von einem Rettungsboot aufgegriffen wird. Es musste dieses Mal wirklich schlimm sein.
„ Ich konnte nicht früher anrufen, Mama. Was ist denn passiert, um Himmels willen?“
Langsam machte Melanie sich doch Sorgen, auch wenn sie bisher jedes Mal die Erfahrung gemacht hatte, dass anfangs zwar immer alles äußerst dramatisch klang, sich am Schluss dann aber regelmäßig in Wohlgefallen auflöste.
Sie hatte den Eindruck, dass ihre Mutter die meisten Geschichten in der Regel ganz einfach nur erfand, um bemitleidet zu werden und natürlich, um wieder einen Grund für ein längeres Telefonat zu haben. So ganz hatte sie sich noch nicht an das Leben weitab von ihren alten Freunden gewöhnen können, auch wenn sie die Annehmlichkeiten ihrer feudalen kolonialistischen Villa in vollen Zügen genoss und zum Entsetzen ihres frisch Angetrauten ständig wilde Partys gab, auf deren Höhepunkt sie sich zur perfekten Kopie Marlene Dietrichs gestylt darin versuchte, einige deren größten Hits zu intonieren.
Meist rief sie in Deutschland an, wenn die ausgelassene Partylaune vorbei und ein mittelschwerer Katzenjammer an deren Stelle getreten war.
Es war anstrengend, Kind einer so kapriziösen Mutter zu sein. Aber es war auszuhalten, wenn man sich zu helfen wusste. Nachdem sich abgezeichnet hatte, dass die Anrufe ihrer Mutter immer wieder dieselben Themen und Klagen zum Inhalt hatten, hatte Melanie sich schließlich ein Standardrepertoire an äußerst wirksamen Wiederbelebungssätzen in ein kleines Büchlein notiert, sortiert nach Stichworten wie
Weitere Kostenlose Bücher