Die Tuchhändlerin: Liebesroman aus der Zeit der Weberaufstände (German Edition)
verabschiedete sie sich.
Caspar kam mit dem Tuch leidlich voran. Er hätte den Termin problemlos schaffen können, wenn ihm nicht die Verleger Liebig & Co. einen Strich durch die Rechnung gemacht hätten. Achtzig Ellen! Das hämmernde „De-tschicke, de-tschacke“ des Leinewebstuhls rumorte in Caspars Hirn. Er zog die Bettdecke über den Kopf, versuchte seine Ohren vor dem Krachen zu verschließen, presste seine Handballen in seine Augenhöhlen für einen Moment künstlicher Nacht. Achtzig Ellen! Aber die Augustsonne war stärker als all seine Bemühungen. Es war Tag, ein neuer, ein alter, ein ewig gleicher, derselbe wie gestern und doch ein bisschen anders, nicht genug anders, um ihn als neuen Tag gelten zu lassen.
Caspar fand nicht wieder in den Schlaf. Aber wenn er seine Bettdecke raffte und umschlang, konnte er sich vormachen, Luisa Treuentzien neben sich liegen zu haben und sie zu umarmen. Er bekam sie nicht mehr aus dem Kopf, weil er sie jeden Tag vor Augen hatte. Im Tuch. Im fast fertigen Tuch.
Am Sonntag saß er neben seinem Vater in der Kirchbank. Oh ja, durch Luisa Treuentzien hatte er zurück in den Schoß der Kirche gefunden. Er ging jeden Sonntag hin, um sie zu sehen und zu beobachten, wodurch er vom Gottesdienst rein gar nichts mitbekam.
Sie saß nur wenige Reihen vor ihm auf der anderen Seite des Mittelganges und oft hatte er einen vortrefflichen Blick auf ihren gebeugten Nacken und manchmal sogar auf das Blatt Papier in ihrem Gesangbuch. Die Strichzeichnungen, die Luisa Treuentzien machte, waren wirklich eigenartig. Also, er konnte besser zeichnen. Eindeutig. Warum blieb sie nicht einfach zu Hause und malte im Kontor ihres Vaters? Ein von französischem Samt bezogener Lehnstuhl war mit Sicherheit bequemer als die harte Kirchenbank und besseres Licht gäbe es dort auch und sie würde nicht ständig von der so gottesfürchtigen Mutter getriezt.
Caspar schmunzelte unwillkürlich, wenn Luisa Treuentzien ihren Nacken massierte, sich in der Kirchenbank räkelte, wie er es tat, wenn er nach zwölf Stunden in der Webbank berstende Rückenschmerzen hatte. Er lächelte über Luisa, die ihren Kampf stumm mit ihrer Mutter ausfocht.
„Wenn du noch länger hinstarrst“, hörte Caspar seinen Vater von der Seite her flüstern, wobei der Ältere wie der Jüngere zu den Treuentzien-Frauen hinschauten, „könnte man meinen, du hegst Ambitionen ihr gegenüber.“ Caspar schenkte seinem Vater einen verständnislosen Blick und widmete sich sogleich seinem Gebetbuch. Er war sicher, dass er und Luisa Treuentzien diejenigen waren, die in diesem Moment keine Ahnung hatten, welchen Psalm Pfarrer Sälar gerade auslegte. Es war ihm auch egal.
Als er sicher war, dass sein Vater seine ungeteilte Aufmerksamkeit dem Gottesdienst widmete, hob Caspar wieder seinen Blick in Richtung der Treuentzien’schen Damen und erschauerte unter den zwei hellgrauen Augen, die ihn von dort her ansahen. Auf Luisas Gesicht lag unverkennbare Verzweiflung. Caspar vermochte nicht zu sagen, wieso sie ihn so anstarrte. Sie schaute ihn vielleicht gar nicht an, überlegte er, und schaute sich um, aber unter den hinter und neben ihm sitzenden Männern war keiner mit Luisa Treuentzien ins Blicketauschen vertieft. Als er erneut nach vorn sah, war Luisa schon wieder über ihre Zeichnung gebeugt.
Nach dem Gottesdienst pirschte sich Christian Daniel Mätzig an Caspars Vater heran, erkundigte sich mit schleimiger Verschlagenheit nach dessen Gesundheit und tat ganz scheinheilig: „Sie kommen doch hoffentlich mit der erhöhten Auflage des Verlegers Liebig zurecht, Meister Weber? Wenn nicht, wissen Sie ja, wo Sie mich finden. Achtzig Ellen Leinwand sind kaum zu bewältigen, zumal man mit den Preußen Geschäfte macht.“ Mit schallendem Lachen, das freundschaftlich gemeint sein sollte, verzog sich der Verleger.
Sie kamen nicht mit den achtzig Ellen Leinwand zurecht, denn es war viel zu viel, aber das ging einen Christian Daniel Mätzig nichts an. Nie hatte Caspar von Häuslern gehört, die achtzig Ellen in einer Woche schafften. Sechsundfünfzig Ellen waren Standard für eine Sechstagewoche mit zwölf Stunden Arbeit täglich. Seit ihnen die Auflage erhöht worden war, erlaubte sich keiner mehr einen schwachen Moment. Sogar Sophie saß am Leinewebstuhl, wenn die anderen mal pinkeln mussten. Alle mussten weben. Auch Sophie. Die ging nicht mehr in die Schule. Alle webten. Wenn sie den Webstuhl achtzehn Stunden sieben Tage die Woche am Laufen
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