Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition)
Gedanken noch ein letztes Mal zu dem erleuchteten Fenster im ersten Stockwerk wie zu einer Erscheinung. Aber dann passierte alles so schnell, daß sämtliche Überlegungen sich in die kalte Luft der Nacht verflüchtigten. Sie öffneten die Tür des Vorgartens, schlüpften hinein und stiegen rechts vom Treppenaufgang die rissigen, gruftartig anmutenden Steinstufen hinunter zur Kellertür. Ida stieß mit der flachen Hand gegen die Holztüre, und Ali wurde von einem Schwindelgefühl ergriffen, als flöge er über ein Luftloch, als er sah, daß die Tür sich ohne Widerstand öffnete, wie Ida es vorausgesagt hatte. Das Schloß fehlte tatsächlich. Sie begaben sich in den finsteren Schlauch des Hauptganges. Ida zog aus der Trenchcoattasche die kleine Mag-Lite-Taschenlampe, die sie nachmittags neben den Messern erstanden hatte, und schaltete sie ein.
In dem zitternden Lichtkegel begann für Seichtem das, worauf er eigentlich längst hätte vorbereitet sein müssen, was ihn jedoch trotzdem verblüffte: die Hauptvorstellung! Plötzlich war die Angelegenheit keine bloße Phantasie oder die Wahnidee eines ausgeflippten Paares mehr, sondern faßbare Realität. Was Ali sah, waren alte Freunde. So kam es ihm vor, als er auf seinem Weg Dinge erblickte, die damals vor zehn Jahren und noch Jahre danach Bestandteile seines Alltags gewesen waren, die er aber seither längst aus dem Gedächtnis gelöscht zu haben geglaubt hatte. Aber nein, unverwüstlich, wie alte Freunde nun einmal waren, sprangen sie ihm putzmunter entgegen, und er erkannte sie alle wieder. Hier lag beispielsweise der eingerollte, vor Schmutz starrende Teppichboden, der während früherer Renovierungen ausgemustert worden war und nun wie eine umgekippte Säule eine ganze Flanke des Flures einnahm. Er und Ida hatten ihn lange Zeit geduldet, bis sie schließlich eine Entsorgungsfirma engagieren mußten, um ihn loszuwerden. Und dort links die zwei orangefarbenen Stehlampen aus den Siebzigern, von einer fingerdicken Staubschicht überzogen und nur noch Trübsinn ausstrahlend, als wüßten sie selbst, daß niemand sie je wieder anknipsen wird. Oder das kaputte, an einem Haken von der Decke baumelnde Bonanza-Rad, früher das Ein-und-Alles eines heute längst erwachsen gewordenen Jungen, ohne bestimmbare Farbe und nur noch die selige Erinnerung eines traurigen Mannes. Das alles und noch viel mehr hatten die Seichtems damals nach ihrem Einzug im Keller vorgefunden, obwohl der Vorbesitzer versprochen hatte, das ganze Gerümpel bis zum fraglichen Termin fortzuschaffen. Was jedoch zu jener Zeit für Ärger gesorgt hatte, stellte jetzt das Sinnbild für Heimkehr dar.
Der Keller besaß drei Eingänge, doch keiner davon führte direkt in den Wohnbereich des Hauses. Außer jenen zur Straße und zum Garten, gab es noch einen im Treppenhaus, passierbar durch eine Milchglastüre. Da eine unmittelbare Verbindung nicht existierte, mußten sie den Umweg über den Garten nehmen. Die Küchentür würde offenstehen, wenn Ida sich richtig erinnert hatte. Wenn nicht, bliebe ihnen der Eintritt verwehrt. Nachdem sie einige Seitengänge hinter sich gelassen hatten, standen sie schließlich vor dem rostigen Riegelschloß der rückwärtigen Tür. Ida knipste die Taschenlampe aus, schob den Riegel mit äußerster Achtsamkeit millimeterweise zurück und öffnete die Türe so behutsam, daß keinerlei Geräusch zu hören war.
»Du hast dir gemerkt, was ich dir über die Dielenbretter gesagt habe?« flüsterte sie.
Ali nickte.
Es gab einige Bereiche des alten Pitch-Pine- Dielenbodens im Haus, welche beim Betreten fürchterlich knarzen würden. Obwohl das Gebäude vor dem Kauf einer aufwendigen Instandsetzung unterzogen worden war, hatte man sich für die Beibehaltung der Originalböden entschieden. Und alte Holzböden knarrten nun einmal stellenweise, ob renoviert oder nicht. Sie hatten sich damals rasch daran gewöhnt, und schon bald wurden sie sogar völlig taub dagegen. Doch nun stellte das Knarzen einen Gefahrenherd dar, den man geflissentlich umgehen mußte. Denn durch die Boden- und Deckenöffnungen, durch die sich die Wendeltreppe über die drei Stockwerke hinaufringelte, hörte man zu stillen Zeiten, so wie jetzt in der Nacht, in jeder beliebigen Etage selbst das Fiepen einer Maus. Ida behauptete, jene knarzenden Stellen immer noch genau zu kennen. Vermutlich, weil sie im Gegensatz zu ihm seit ihrem Auszug nicht das komplette Lager einer Wodkaabfüllerei konsumiert hatte.
Auf leisen Sohlen
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