Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition)
über sie herein wie eine schwarze Flut. Bis auf die schummerigen Konturen der Kücheneinrichtung und die Digitalanzeigen an Kühlschrank, Herd und Mikrowelle konnten sie fast nichts erkennen. Da half ihnen wieder die Erinnerung, die zehnjährige Kenntnis über die Architektur des Hauses und die Position der Möbel. Mit schlafwandlerischer Sicherheit umgingen sie die Kochnische und den antiken Tisch, die vier Stühle und die Biedermeierkommode, welche seit ihrem Einzug stets am selben Platz gestanden hatten. Schließlich passierten sie den engen Durchgang, der zum sogenannten Berliner Zimmer führte. Es handelte sich hierbei um ein riesiges Entree mit hohen Wänden, das dem ankommenden Besucher eine erste Ahnung von der Herrschaftlichkeit des Hauses vermittelte und von dem außer der Küche noch der Wintergarten und das sich daran anschließende Wohnzimmer abgingen.
Und an diesem Punkt begann die Angst in ihre Glieder zu kriechen wie eine tödliche Droge, die ganz allmählich ihre Wirkung entfaltet. Aber es war längst zu spät, noch umzukehren. Sie standen jetzt direkt neben der Wendeltreppe, und obwohl das Büro zwei Zimmer über ihnen lag, stahl sich das Licht bis zu der Deckenöffnung und rann als trüber Schein die Stufen entlang ins Berliner Zimmer. Ali wagte kaum zu atmen. Sein Herz pochte in solch rasendem Rhythmus, daß er befürchtete, es würde jeden Augenblick aus seiner Brust schießen. Seine Gesichtsmuskeln zuckten, und Schweiß bedeckte seinen Körper.
Nur seine Hände waren seltsam ruhig, und als wäre es alte Routine, rutschte seine r echte plötzlich geschmeidig in die Manteltasche und umklammerte den Griff des Messers. Ida, welche die fahle Stufenspirale im Auge behielt, bemerkte dies, langte gleichfalls in die Tasche und holte ihr Messer heraus. Daraufhin zog Ali seines auch aus der Tasche, so daß sie, wie sie da beide mit den gezückten Messern in der Finsternis standen, wie Karikaturen von Meuchelmördern aussehen mußten. Und das in meinem eigenen Haus! flog es Ali entsetzt durch den Kopf.
Wieder überkam ihn ein Gefühl der Unwirklichkeit, doch schwächer als zuvor. Das Bewußtsein schien sich an alles anpassen zu können, selbst an den irrealsten Alptraum. Daher staunte Ali jetzt auch nicht mehr, als er trotz der schlechten Lichtverhältnisse erkennen konnte, daß es überhaupt keinen Zweifel mehr hinsichtlich der Zeit gab: Es war der siebenundzwanzigste März des Jahres 1991 in ihrem eigenen Haus und auf keinen Fall in dem des alten Fabrikanten in der Gegenwart. Oder was die Gegenwart jetzt auch immer sein mochte. Dort neben der Wohnungstür stand die alte Holzbank, die Ida seinerzeit beim Trödler aufgelesen hatte und die künftig als Garderobe für Besucher dienen sollte. Und gleich gegenüber der kleine runde Mosaiktisch, den sie aus der alten Wohnung mitgebracht hatten. Beide Stücke hatten damals bei den Notverkäufen den Besitzer gewechselt. Und wenn es Dinge zweimal gab, dann gab es auch Menschen zweimal.
Ida hielt sich nicht mehr mit der Beseitigung von letzten Zweifeln auf. Sie ging wie mechanisch um das Treppengeländer herum und begann die Stufen unhörbar hinaufzusteigen. Die Aussicht auf die zweite Chance schien jegliche Skrupel in ihr ausgelöscht zu haben, nichts schien sie aufhalten zu können. Und wie Ali ihr so nachschaute und dabei seinen Kopf deckenwärts leicht verrenkte, da hatte er plötzlich eine Eingebung, die ihn selbst schockierte. Wie wäre es, schoß es ihm durch den Kopf, wenn ich ihr einfach nachschliche und sie tötete, bevor sie den oberen Treppenabsatz erreichte? Ja, einfach sie ermorden, statt der jungen Ida, die oben in ihrem Bett schlummerte, nicht ahnend, welches Grauen in wenigen Augenblicken über sie hereinbrechen würde. Nicht, weil er die alte Ida wirklich loswerden wollte, sondern im Gegenteil, weil er sie liebte und ihr nachträglich das Leid ersparen wollte, welches in ihr zur steinernen Erinnerung geworden war.
» Wenn sie weg sind, werden wir einfach ihre Stelle einnehmen. Sie und wir sind ein und dieselben, bloß daß wir zehn Jahre älter sind. Sie sterben nicht wirklich, sie leben in uns weiter « , hatte sie sich gegen seine verlogenen moralischen Bedenken verteidigt. Aber funktionierte das nicht auch umgekehrt? Wenn die alte Ida weg wäre, bliebe nur noch eine junge Ida übrig, eine noch unschuldige und glückliche, die das namenlose Trauma über den Verlust des eigenen Kindes nicht kannte. Die Entfremdung zwischen ihnen über die
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