Die Tür (Die Damalstür) - Sonderedition (German Edition)
wären wir harmlose Spaziergänger. Dann betreten wir mit derselben unschuldigen Selbstverständlichkeit den Vordergarten. Ohne Hast. Von dort verschwinden wir unter dem Treppenaufgang und steigen in den Keller hinunter. Wenn wir im Haus sind, sind wir erst einmal in Sicherheit.«
Wie danach vorzugehen war, hatte sie mit ihm vorher bis in jede Einzelheit abgesprochen. Fast: Die ausführlichen Anleitungen brachen immer just an der Stelle ab, wo es um die eigentliche Tat ging. Sie schien davon überzeugt, daß die Morde sich von selbst erledigen würden. Als wohnte ihnen ein Automatismus inne, als sei das Ganze eine Routineaktion, die ein erwachsener Mensch im Repertoire haben müsse, als sei es etwas, das man im Geiste schon tausendmal durchgespielt habe und nur noch in die Praxis umsetzen müßte - als würden sie dafür nie büßen müssen. In der Tat, diese Seite von Ida hatte er nie gekannt.
Ali genoß noch die Ruhe vor dem Sturm und stellte sich auf weitere Ratschläge ein. Doch plötzlich tat sie etwas, womit er am wenigsten gerechnet hatte und das ihm doch so vertraut war. Sie gab ihm einen Kuß. Lange, intensiv und feucht.
»Viel Erfolg!« sagte sie und lächelte wie frisch verliebt. Dann drehte sie ihm den Rücken zu, verließ die Gasse und überquerte mit schnellen Schritten die Straße.
Viel Erfolg? Wobei? Beim kaltblütigen Mord? Beim Unterdrücken des Brechreizes während der Arbeit? In diesem Moment bereute Ali wieder, daß er sich auf die Sache eingelassen hatte, und haßte Ida für ihre Entschlossenheit. Hätte sie ihm den Kuß nicht gegeben, wäre es anders gewesen. Trotz aller Zweifel hatte er sich von ihr mitreißen lassen, ja, war er sogar selbst von der Notwendigkeit ihres Plans überzeugt gewesen. Doch dieser Kuß, so wie er sich angefühlt, so wie er geschmeckt hatte, ein ernstgemeinter Kuß, änderte die Situation schlagartig. Der Kuß hätte ihn zur Besinnung bringen können. Der Kuß bestätigte, daß sie ihn immer noch liebte, und die Erregung, die er dabei empfunden hatte, zeigte ihm, daß auch sie weiterhin die größte Liebe seines Lebens war, schlichtweg seine Traumfrau. Weshalb, um alles in der Welt, sollten also bei so viel Liebe gruselige Fluchten in die Vergangenheit und blutige Messer das Glück erzwingen müssen? Wenn zwei sich liebten, ging es doch irgendwie immer weiter. Ein zuckersüßer Lehrsatz, aber dennoch wahr. Vertrauten sie dieser Liebe denn so wenig? Waren sie so schwach? Liebe, das, wonach sich alle sehnten, das war es doch, worum es immer ging. Und sie hatten es, sie hatten es schon immer gehabt. Also warum?
Aber Ali hielt sie nicht auf, er rief ihr nicht hinterher: »Ida, laß es! Komm zurück, ich habe es mir anders überlegt!« Nein, er blieb stumm, und stumm ging er aus der Gasse und folgte ihr. Dabei kannte er den Grund für sein Handeln natürlich ganz genau. Doch dieser Grund war so unerträglich schmerzhaft wie schlimmste Verbrennungen nicht schmerzhafter hätten sein können, die tanzenden Schatten in der Gasse, die bunten Lichter, »Erdlinge, ich bringe euch den Frieden!« ...
Idas Turnschuhe erzeugten auf dem Asphalt keinerlei Geräusche. Aber seine einst handgefertigten, mittlerweile allerdings fast durchgelaufenen Schuhe ließen ein allseits hallendes Geräusch vernehmen. Ali blickte panisch zu den dunklen Fenstern der Nachbarhäuser. Theoretisch hätten hinter den Jalousien und Läden neugierige Augen das verdächtige Paar beobachten können. Doch das wäre für die hier wohnenden Leute sehr untypisch gewesen. In all diesen goldenen Schneckenhäusern herrschte ein großzügiges Laissez-faire, ein sich freundliches Tolerieren und Ignorieren. Da konnte der Bankier im Garten seinen Joint rauchen und sich die Werbeagenturchefin jenseits der Menopause mit ihrem zwanzigjährigen Geliebten im Nachbargarten vergnügen, ohne daß sich irgend jemand auch nur verwundert die Augen rieb. Diese Art Menschen standen um diese Uhrzeit höchstens am Fenster, um sich daraus auf die Straße zu stürzen, weil die Geldquelle für ihr kleines Elysium plötzlich versiegt war. Außerdem, was hätten sie schon Aufregendes sehen können? Die Neuen aus der Nachbarschaft, wie sie die Straße zu ihrem Haus überquerten, weiter nichts. Weder wußten sie, wie Ali und Ida genau aussahen, noch kannten sie ihr Alter.
Sie gelangten auf die andere Straßenseite, wo sich das Haus nun mächtig und unheilvoll gegen den Sternenhimmel aufbäumte, und Ali blickte mit sich überschlagenden
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